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Schule

Offener Brief der der Wilhelm-Hauff-Grundschule in Leipzig

In einem offenen Brief an das Kultusministerium zur Öffnung am 18. Mai zeigen die Kolleg*innen die Probleme vor Ort auf - exemplarisch für viele Bildungseinrichtungen in Sachsen.

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Offener Brief – Schulöffnungen am 18. Mai 2020

Sehr geehrter Herr Piwarz,

uns ist bewusst, dass wir uns in kritischen und herausfordernden Zeiten befinden, in denen schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Auch wir LehrerInnen wünschen uns eine geregelte Rückkehr zur viel gepredigten Normalität, damit den SchülerInnen die Möglichkeit gegeben wird, wieder regulär und regelmäßig am Unterricht teilzunehmen, ihre Freunde wiederzusehen, ein Stück Alltag zurück gewinnen zu können. Auch wir bemühen uns fortwährend um ein Stück Normalität im Austausch mit den Kindern und Eltern in diesen unsicheren Zeiten.

In den vergangenen Wochen haben wir kurzfristig die vorgegebenen und sich immer wieder verändernden Maßnahmen im Rahmen des Notfallbetreuungsplans sensibel umgesetzt und sind den Hygienevorschriften auch hinsichtlich der jüngsten Schritte mit der Öffnung der Schulen für die 4. Klassen ordnungsgemäß und verantwortungsbewusst nachgekommen. Es bedarf immensen organisatorischen Aufwandes, dies für die Klassen mit den Vorgaben der Teilungen, getrennten Beschulung sowie der Einhaltung der notwendigen Hygienestandards unter den gegebenen und schwierigen infrastrukturellen Voraussetzungen umzusetzen.

Nach dem 6. Mai 2020 und der Öffnung der Schulen für die 4. Klassen griff das vorgegebene Konzept der Gruppenteilungen und der räumlich sowie personell entzerrten Beschulungen, da sich die älteren SchülerInnen ihrer Verantwortung bewusst sind und mit den Belehrungen seitens des Lehrerpersonals sensibel umzugehen verstanden. Allerdings war und ist das Schulpersonal dahingehend bereits vollständig ausgelastet.

Bereits nach zwei Tagen in diesem neu geregelten Schulbetrieb jedoch wird über die Medien bekannt gegeben, dass diese Hygienestandards und streng geregelten Schutzmaßnahmen für Alle in ihrer bisherigen Form gegenstandslos sind, indem es plötzlich ohne jedwede Vorbereitungsmöglichkeit allen Klassenstufen ohne eine stufenweise Einführung wieder möglich sein soll, die Schule zu besuchen.

Dies stimmt uns mehr als betroffen. Dieser überstürzte und verantwortungslose Umgang mit der gesundheitlichen Sicherheit der Kinder und des Lehrpersonals macht uns fassungslos. Wir müssen nun erstaunt feststellen, dass ab dem kommenden Montag, den 18. Mai 2020 ad hoc (!) und ohne die Möglichkeit, ein geeignetes Konzept für die entsprechende Vorbereitung aufbauen zu können, alle bisher sensibel vertretenen und ordnungsgemäß durchgeführten Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 und zum Schutz von vulnerablen Gruppen durch das neue Konzept zur Wiederaufnahme der KiTas und Grundschulen im Freistaat Sachsen hinfällig sind.

Für unsere Schule bedeutet dies eine fortan nicht mehr realisierbare Durchsetzung der Vermeidung von potentieller Ansteckung durch COVID-19. Es impliziert ein immenses Risiko für die wieder eng beieinander sitzenden Kinder und die KollegInnen, die den Risikogruppen angehören. Dahingehend herrscht sowohl innerhalb des Kollegiums als auch seitens der Eltern große Sorge und Verständnislosigkeit. Es kommen Fragen und Ängste auf. Betroffene LehrerInnen werden, obwohl sie ein ärztliches Attest zur Bescheinigung der Risikogruppenzugehörigkeit haben, nicht nur einem vermeidbaren und demnach fahrlässigen Risiko ausgesetzt, sondern haben auch begründete,

existentielle Ängste um ihre Gesundheit. Nach dem Bekanntwerden der COVID-19 Fälle und der Kategorisierung in vulnerable und nicht vulnerable Gruppen durch das RKI ist die Entscheidung, diese LehrerInnen zurück in den Schuldienst zu schicken, nicht nachvollziehbar. Auf welcher wissenschaftlichen Basis beruht diese Entscheidung? Wer kann und möchte dies verantworten?

Der Schule wurden auch keine FFP2 Masken zur Verfügung gestellt, lediglich ein paar handgenähte Stoffmasken, die durch schlechte Nähte kaum richtig waschbar sind und nach Aussagen des RKI keinen hinreichenden Schutz bieten.

Es fehlt an der infrastrukturellen Voraussetzung, die noch immer geltenden Hygienestandards ordnungsgemäß umsetzen zu können. Die räumlichen Grundvoraussetzungen können eine zuverlässige und lückenlose Gewährleistung der vorgegebenen Trennung der Klassen nicht mehr leisten. Es gibt beispielsweise nicht genügend Toiletten, um die SchülerInnen geregelt und klassenweise im Schulalltag voneinander trennen zu können. Wenn die SchülerInnen darüber hinaus vor und nach der Unterrichtszeit wieder durch die Öffnungen im öffentlichen Raum miteinander in Kontakt kommen, führt es die strenge Trennung der Klassen im Schulalltag letztlich ad absurdum.

Ferner fehlen Aussagen zur Vertretungsregelung im Falle von Personalausfall, z.B. durch Krankheit oder Quarantäne. Müssen die Kinder demnach wieder zu Hause bleiben oder sollen alle im Rahmen der Notbetreuung untergebracht werden? Letzteres ist personell erneut äußerst problematisch, da die KlassenleiterInnen nach aktueller Maßgabe an ihre Klassen gebunden sind und nicht innerhalb der Klassenverbände wechseln sollen.

Eine besondere Herausforderung stellt außerdem der angemessene Umgang im Fachbereich DaZ dar: Viele Eltern können aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse die Belehrungen und Formulare nicht verstehen. Zudem fehlt ein Konzept unter Maßgabe des Rechtes auf DaZ-Unterricht. Die Konsequenz der strikten Gruppen- und Klassentrennung ist eine gravierende Benachteiligung der DaZ-SchülerInnen. Auch hier mangelt es an umsetzbaren Lösungsansätzen, Handlungsanleitungen und Empfehlungen.

Warum nun also dieser Kurswechsel und die in unseren Augen fahrlässige und mit immensem Risiko verbundene Vorgehensweise nach den vorsichtigen und sensiblen Vorgaben und damit verbundenen Umsetzungen der vergangenen Wochen? Wie können wir den Kindern vermitteln, sich an die strengen Regularien zu halten, wenn wir nicht in der Lage sind, ihnen Sicherheit im Umgang miteinander und im gegenseitigen Austausch zu ermöglichen? Wo kann Vertrauen fußen, wenn wir selbst mit den Umsetzungen insofern überfordert sind, als dass wir alle uns erhöhter Gefahr aussetzen, die Ansteckungskurve des Virus‘ wieder ansteigen zu lassen?

Wir bitten um eine Stellungnahme, die oben genannten und folgenden Fragen betreffend. Worauf basiert dieser radikale Kurswechsel des Kultusministeriums?
Wie planen Sie konkret mit dem potentiellen Anstieg einer Ansteckungsgefahr umzugehen? Warum werden die Tests für das Lehrpersonal erst ab Anfang Juni bereit gestellt?

Warum werden die noch immer allerorts geltenden Abstandsregeln gerade an der Institution Schule ausgehebelt?
Warum werden nicht genügend Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um die Umsetzung in diesen riskanten Schulalltag gewährleisten und absichern zu können?

Welche Sicherheitsgarantien haben die SchülerInnen im Falle einer potentiellen Erkrankung?
Kann der Freistaat Sachsen eine generelle Anerkennung eventueller gesundheitlicher Folgeschäden als Berufserkrankung garantieren?
Welche Institution prüft die konkrete Umsetzbarkeit Ihres neu aufgestellten Konzepts vor Ort?

Wie wird die Situation der SchülerInnen in Zukunft im Rahmen der schulischen Bildungskonzepte berücksichtigt? Wird an einem Konzept gearbeitet, dass Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs für diese Schülergeneration im Falle einer Lernentwicklungsbeeinträchtigung bereit stellt?
Wie soll mit den Konsequenzen der Nichterbringung der COVID-19-Dokumentation durch die Eltern konkret umgegangen werden? Wird es zeitnah eine Übersetzung der neuen Elternanweisungen in andere Sprachen geben? Besonders an sogenannten ‚Brennpunktschulen‘ könnte es zu einem erhöhten Organisations- und Verwaltungsaufwand kommen, der zum besonderen Schulalltag hinzu kommt.

Es wird zudem befürchtet, dass trotz des sensiblen Umgangs des Lehrpersonals mit der Situation Ängste, Kontaktvermeidungsverhalten (z.B. Selbstisolation) und Kontrollverhaltensmuster durch COVID-19 bei SchülerInnen und Lehrpersonal entstehen, die deren mentale und psychosoziale Gesundheit beeinträchtigen können. In Zeiten der Verunsicherung - erst durch einen Mangel an wissenschaftlichen Fakten, dann durch gravierende Gesetzeslagenveränderungen und unterschiedliche wissenschaftliche und politische Bewertungen der Situation mit COVID-19 - befinden wir uns in einer mental und psychisch äußerst angespannten Lage.

Warum werden bei der Entwicklung dieser Konzepte keine Schul- und SchülervertreterInnen, ElternvertreterInnen, Lehrerverbände oder die Gewerkschaften mit ins Boot geholt (siehe Konzept zur Wiederaufnahme Seite 1, Fußnote zur Ad-hoc-Arbeitsgruppe)? Bisher haben offiziell vor allem medizinisches Fachpersonal und politische VertreterInnen die Regelungen aus ihrer Sicht festgelegt, die für KiTas und Schulen einen gravierenden Einschnitt in die Organisation und den (Schul-) Alltag nach sich ziehen und keinen Bezug zur Schulpraxis haben.

Sie registrieren die Unsicherheit und den Zweifel, den wir in Bezug auf den neuen Kurs des Kultusministeriums hegen, wenngleich uns bewusst ist, dass keine Entscheidung in diesen Tagen leichtfertig getroffen werden kann. Und gerade deshalb möchten wir Ihnen diesen Brief zukommen lassen. Wir wünschen uns ein geeigneteren und risikoärmeren Weg zurück in den Schulalltag.

Die bis dato getroffenen Entscheidungen haben wir mit Engagement und Zuversicht auf eine langsame Rückkehr zur Normalität umgesetzt und wünschen uns jetzt eine Stellungnahme sowie einen verantwortungsvolle(re)n Umgang mit diesen neu festgelegten Strategien oder einen schulpraxisnahen Konzeptentwurf zusammen mit SchulvertreterInnen, der für die Umsetzung der Maßnahmen an Grundschulen für Entschleunigung und Entspannung in diesen angespannten Tagen sorgen kann.

Aufgrund der in Kraft getretenen Maßgaben zur Öffnung der Schulen, insbesondere der Grundschule, können wir die Verantwortung für unsere SchülerInnen und unser Kollegium nicht übernehmen. Zum Beispiel liegt die Aufsichtspflicht von Einlass bis zum Schulzeitende in unserer Verantwortung. Personell haben wir keine Möglichkeit, Aufsichten für Toiletten und Waschbecken bereit zu stellen.

Mit freundlichem Gruß
KollegInnen der Wilhelm-Hauff-Grundschule