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Migration

Einblicke in die Biographien geflüchteter Lehrer*innen in Sachsen

Kürzlich erschien die Studie der GEW zu migrierten Lehrkräften mit dem Titel „Verschenkte Chancen?!“ von Roman George, Referent der GEW Hessen für Bildungspolitik. [1] Roman George analysiert die Anerkennungs- und Beschäftigungspraxis von migrierten Lehrkräften in den Bundesländern und schlussfolgert, dass viele Chancen verschenkt werden, Potentiale verloren gehen, wenn es um die Anerkennung und Einstellung international ausgebildeter Lehrer*innen geht.

Oberschule Ohlendorf (Foto: Eckhard Stengel)

Wie ist das in Sachsen? Am Beispiel zweier Fallporträts möchte ich in diesem Text einen kleinen Einblick in zwei Biographien von geflüchteten Lehrer*innen geben.

Layla Gergi und Malek Alhabib sind Lehrer*innen. [2] Sie leben seit sechs bzw. sieben Jahren in Sachsen. Und sie sind an sächsischen Schulen tätig. Ihr Studium einer Sprache und des Lehramts bzw. der Erziehungswissenschaft haben sie an anerkannten Universitäten in Syrien absolviert. Layla Gergi hat im Anschluss an ihr Studium fast zwanzig Jahre als Lehrerin an zwei Gymnasien gearbeitet. 
Ihre Lebensgeschichten, die in diesem Text ausschnittartig präsentiert werden, haben sie mir im Rahmen von Interviews in meinem Promotionsprojekt erzählt. Ursprünglich wollte ich meine Interviewpartner*innen an sächsischen Schulen finden. Schnell wurde aber deutlich, dass dies nicht möglich ist, denn nur wenige geflüchtete Lehrer*innen arbeiten in Sachsen wieder als Lehrer*innen an staatlichen Schulen.

Layla Gergi und Malek Alhabib arbeiten dennoch an Schulen. In beiden Erzählungen zeigen sich relativ erfolgreiche berufliche Wiedereinstiege.
Layla Gergi ist zum Zeitpunkt des Interviews Ende 40, sie hat fünf Jahre Arabische Sprache und Literatur sowie Lehramt studiert. Sie ist mehrsprachig, sie spricht Arabisch, Aramäisch, Deutsch und Englisch. Ihr Abschluss wird in Deutschland mit einem Bachelor gleichgesetzt. Layla Gergi berichtet von fast 20 Jahren Berufserfahrung in Syrien und im Libanon. In der ostdeutschen Kleinstadt, in der sie lebt, hat sie eine befristete Stelle als Sprach- und Integrationsmittlerin.
Malek Alhabib ist zum Zeitpunkt des Interviews Anfang 40. Er hat einen Bachelor in Anglisitik, ein Diplom in Erziehungswissenschaften und im Anschluss ein Masterstudium absolviert. Sein Abschluss wird in Deutschland mit einem Master gleichgesetzt. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich im Anerkennungsverfahren für Lehrer*innen. Auch Malek Alhabib ist mehrsprachig, er spricht Arabisch, Deutsch und Englisch. Er arbeitet als Englischlehrer an einer Berufsbildenden Schule in Freier Trägerschaft in Westsachsen.

„Meine Familie wir sind – ich gehöre zu einer großen Familie und meine Geschwister – alle haben an der Universität studiert (...) sie haben alle ein gutes Studium oder Abschluss.“  
(Layla Gergi, Z. 28-29)

„Für mich oder für meine Familie war das wichtigste- oder der wichtigste Weg das Lernen und das Studieren.“ (Malek Alhabib, Z. 34-36)

Gleich zu Beginn der beiden Interviews mit Layla Gergi und Malek Alhabib heben sie den Stellenwert von Bildung hervor: Sie sind in bildungsaffinen Familien aufgewachsen, Bildung war ein wichtiges Gut. 
Sowohl in Layla Gergis Herkunftsfamilie als auch in ihrer eigenen Familie spielt Bildung als kulturelles Kapital eine wichtige Rolle: Sie und ihre Geschwister haben akademische Abschlüsse; ihr Ehemann war Ingenieur, sie Lehrerin; ihr Leben war von Stabilität und Sicherheit gekennzeichnet, sie hatten sichere Arbeitsplätze, ein regelmäßiges Einkommen; die Kinder lernten an Privatschulen und in ihrer Freizeit musizierten sie; sie unternahmen viele Reisen.
Malek Alhabib schildert, dass alle seine älteren Geschwister Hochschulabschlüsse erworben haben. Sein ältester Bruder und sein Vater haben im gleichen Jahr ihren Abschluss an der Uni gemacht.

„[…] das freut mich, weil ich habe eine ähnliche Arbeit gefunden wie Lehrerin. Vielleicht kann ich nicht als Lehrerin arbeiten, aber meine Chefin sagt du bist Lehrerin, du bist Lehrerin bei uns.“ 
(Layla Gergi, Z. 141-143)

Layla Gergi wollte auch nach ihrer Ankunft in Sachsen unbedingt wieder in einer Schule arbeiten. Es freut sie, dass sie „eine ähnliche Arbeit gefunden [hat] wie Lehrerin“. Sie erfährt Wertschätzung durch ihre Chefin: „Vielleicht kann ich nicht als Lehrerin arbeiten, aber meine Chefin sagt du bist Lehrerin, du bist Lehrerin bei uns. Sag danke.“ Aber sie scheitert an dem Versuch, ihr Leben wie es in Syrien war, auch in Deutschland wieder aufzubauen. Es bleibt ein fahler Beigeschmack, denn die wertschätzende Fremdwahrnehmung stimmt nicht mit ihrer Selbstwahrnehmung überein.
Das liegt auch daran, dass Layla Gergis akademisches Wissen und ihre Berufserfahrung unter den Bedingungen der Fluchtmigration, von dem Übergang von der syrischen in die deutsche Gesellschaft neu ausgehandelt werden müssen. Wie gestaltet sich dieser Übergang bei Layla Gergi?: Ihre Lebensgeschichte dokumentiert, dass sie ihren akademischen Abschluss, ihre Berufserfahrung produktiv einsetzen kann aber nicht in der Position, in der sie in Syrien war, nicht mit der Bezahlung, nur mit einem befristeten Vertrag ohne berufsbegleitende Weiterbildung oder Zertifikate und damit mit ungewisser Zukunftsperspektive.
In ihrer Erzählung spricht sie eine Alternative an, ein fünfjähriges Studium, um als „echte Lehrerin“ arbeiten zu können. Die lange Dauer, die fehlenden Finanzierungsmöglichkeiten für ein Studium und das Unverständnis dafür, dass ihr bisheriges Studium und ihre Lehrerfahrung nicht anerkannt werden, lassen diese Alternative nicht als Option für sie zu. 
Und so gibt Layla Gergi sich mit ihrer Stelle zufrieden und betont, dass sie in einer ähnlichen Atmosphäre arbeitet, wie als Lehrerin.

„Natürlich warte ich auf dieses hässliche Verfahren, Anerkennungsverfahren. Das wird eine große Rolle spielen. Also seit zwei Jahren habe ich immer noch meine Papiere in Dresden. Bis jetzt habe ich keinen Bescheid bekommen.“ (Malek Alhabib, Z. 467-469)

Malek Alhabib wartet zum Zeitpunkt des Interviews seit zwei Jahren auf einen Bescheid seines Antrags auf Anerkennung ausländischer Qualifikation, den er im September 2018 gestellt hatte. Zwar arbeitet er als Lehrer an einer Schule in freier Trägerschaft, aber die formale, staatliche Anerkennung fehlt ihm. Seine Arbeit als Lehrer an der Berufsbildenden Schule in freier Trägerschaft hat er auch ohne vorliegenden Anerkennungsbescheid bekommen. Geholfen hat ihm allerdings, so seine Erzählung, eine Zeugnisbewertung der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB), in der bestätigt wird, dass er an einer anerkannten Universität studiert hat und sein Studium einem Master entspricht.

Den Weg in die Schule betrachtet er als sehr schwer und hart. Aber er beschreibt auch, dass er unbedingt wieder Lehrer sein möchte, das sei seine Berufung. Er beschreibt, wie er sich von Grund auf in weniger als fünf Jahren ein hohes Deutschniveau angeeignet hat, sich auf dem Arbeitsmarkt orientiert, sich politisch engagiert und schließlich eine qualifikationsadäquate Beschäftigung als Lehrer gefunden hat. Er beschreibt sich als einen „Kämpfer“ und als sehr zielstrebig. Gleichzeitig betont er, dass der Weg, den er gewählt hat, so nicht für alle gangbar ist.

In seiner Erzählung zeigt sich ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Sicherheit: Er beschreibt ein Gefühl von Sicherheit, weil er kurz vor dem Interview einen unbefristeten Vertrag an seiner Schule unterschreiben durfte. Und er spricht darüber, dass er ein gut funktionierendes Unterstützer*innen-Netzwerk aufbauen konnte. Gleichzeitig beschreibt er, wie er sein Vertrauen in Institutionen verloren hat, nämlich dann, wenn er von der langen Wartezeit auf seinen Anerkennungsbescheid spricht.

Layla Gergi und Malek Alhabib sprechen – wenn sie über ihr Lehrer*in-Sein sprechen – vornehmlich als international ausgebildete Akademiker*innen, als Lehrer*innen. Sie ordnen sich also der Gruppe der internationalen Fachkräfte zu. Sie betonen aber auch ihre Schwierigkeiten, hier in Sachsen wieder als anerkannte Lehrer*innen zu arbeiten. Situationsabhängig sind sie handlungsfähig oder aber vulnerabel. Diese Ambivalenz gilt es zu bedenken: Geflüchtete (Lehrer*innen) können und sollten eben auch hinsichtlich ihrer mitgebrachten Kompetenzen als Professionelle betrachtet werden. Gleichzeitig darf unter der Perspektive ihres professionellen Profils nicht vergessen werden, dass es um Menschen mit besonderen Erfahrungen und einer besonderen Verletzbarkeit geht.

Lisa Gulich
Referat Antidiskriminierung, Migration und Internationales, Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung
E-Mail: lisa.gulich(at)gew-sachsen(dot)de


[1]  Link zu Studie https://t1p.de/c9rg
[2]  Die hier verwendeten Namen sind selbstgewählte Pseudonyme.
Der Text basiert auf einem Vortrag mit demselben Titel, den ich bei der interdisziplinären Fachkonferenz im Rahmen des Programms Arbeitsmarktmentoren Sachsen zum Thema „Zuwanderung und Arbeitsmarktintegration. Erfahrungen und Sichtweisen aus Wissenschaft, Politik und Praxis“ am 7. Oktober 2021 gehalten habe.

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