Massive Einschüchterungsversuche
Leider ignoriert die Arbeitgeberseite auch den Wahlvorstand vollständig, sodass dieser im Februar vor Gericht zieht, um die für die Vorbereitung der Wahl notwendigen Daten zu erhalten. Die Arbeitgeberseite wird während der Verhandlung von Herrn Schnatmanns Sohn, dem Rechtsanwalt Michael Schnatmann, vertreten. Erneut stößt mir die Verquickung zwischen familiären und betrieblichen Strukturen auf. Zudem erlebe ich Herrn Schnatmann Senior zum ersten Mal persönlich. Die im Laufe der Verhandlung zunehmend nervöser werdenden Blicke seines Sohnes in seine Richtung festigen bei mir den Eindruck eines autoritären Patriarchen, der einzig die eigene Meinung gelten lässt. Der junge Jurist verfolgt während der Verhandlung scheinbar die Strategie sich dumm zu stellen: Man habe von der Betriebsratswahl nichts gewusst und auch sämtliche Schreiben seien nicht zugegangen. Dieser Argumentation begegnet der Richter mehr als ungläubig und man einigt sich auf einen Vergleich, der vorsieht, dass dem Wahlvorstand die benötigten Daten innerhalb von 14 Tagen ausgehändigt werden. Die Unterlagen gehen trotzdem nicht ein, der Wahlvorstand schiebt eine Eilklage nach. Die Kanzlei Schnatmann & Coll wendet sich daraufhin „überrascht“ an unseren Juristen, Herrn RA Thomas Neie – selbstverständlich seien die Unterlagen übergegeben worden und man sende sie in Kopie gerne noch einmal per E-Mail. Da dem Wahlvorstand trotz dieser Zusicherung zu keinem Zeitpunkt Unterlagen zugehen, entscheiden wir uns mit den Daten zu arbeiten, die Herr Neie per E-Mail erhalten hat.
Zeitgleich wird einer der Initiatorinnen der Betriebsratswahl die Kündigung ausgesprochen. Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), die gesetzliche Grundlage für die Betriebsratsarbeit, stellt jedoch den Gründungsvorgang wie auch die beteiligten Personen unter besonderen (Kündigungs-)Schutz. Grund der Kündigung, wird ihr auf Nachfrage mündlich mitgeteilt, sei das verspätete Einreichen von Krankenscheinen. Die genaue Anzahl der fehlenden Krankenscheine kann nicht benannt werden. Auch eine Abmahnung hat sie im Vorfeld nicht erhalten, man kündigt ihr direkt. Als unser Mitglied erhebt sie über den Rechtsschutz der GEW eine Kündigungsschutzklage. Andere Mitarbeiter*innen beim Sozialwerk sind beunruhigt. Kündigungen, zumindest im großen Stil, halte ich jedoch für unwahrscheinlich. Es herrscht massiver Fachkräftemangel, engagierte pädagogische Fachkräfte werden händeringend gesucht. Massenkündigungen wären aus meiner Sicht rein betriebswirtschaftlich gesehen kaum nachvollziehbar.
Ich liege falsch: Bereits Ende Februar lässt der Arbeitgeber die Muskeln spielen. Es werden Probezeitkündigungen ausgesprochen, befristete Arbeitsverträge nicht verlängert. Drei Wochen später folgt die betriebsbedingte Kündigung aller Arbeitnehmer*innen der Autismusambulanz. Sowohl der Großteil der Initiatoren der Betriebsratswahl als auch des Wahlvorstandes sind in der Autismusambulanz tätig. Die Betroffenen sind fassungslos. Wir unterstützen die Kolleg*innen so gut es geht und organisieren eine Info-Veranstaltung, in der alle Fragen mit dem Juristen Herrn RA Neie erörtert werden können. In der Konsequenz regnet es Kündigungsschutzklagen.
Zum jetzigen Zeitpunkt schockt mich nichts mehr, ich traue der Gegenseite inzwischen alles zu. Dieser Eindruck festigt sich, als eine Kollegin von der Verhandlung ihrer Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht erzählt. Die Gegenseite habe gedroht, dass man auch anders könne, wenn die Betroffenen über die lange Kündigungsfrist nicht dankbar seien. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Dankbar? Über eine Kündigung? Zudem mit einer Frist, die die gesetzlichen Vorgaben in vielen Fällen unterschreitet?
Möglicherweise schien die Geschäftsführung nun zu denken, damit seien die Mitarbeiter*innen genügend verunsichert und das Thema Betriebsrat wieder einmal erledigt. Der April verläuft eher ruhig. Dann überschlagen sich die Ereignisse im Mai: Eine Woche vor dem Wahltag weist die Regionalleitung die Einrichtungsleiter*innen sehr rüde mündlich an, umgehend sämtliche (gesetzlich vorgeschriebenen) Bekanntmachungen zur Betriebsratswahl zu entfernen. Alle Aushänge seien künftig im Vorab bei Herrn Schnatmann schriftlich anzumelden und nur nach seiner ausdrücklichen Zustimmung auszuhängen. Während solche Dienstanweisungen über den Umgang mit Aushangen prinzipiell möglich sind, gilt dies nicht für Informationen zur Betriebsratswahl. Der Wahlvorstand ist vielmehr sogar gesetzlich verpflichtet, bestimmte Informationen betriebsöffentlich auszuhängen. Mehrere Leiter*innen melden sich daraufhin bei mir. Ich erkläre, dass das Abnehmen eine Behinderung der Betriebsratswahl darstellt, die mit rechtlichen Sanktionen nach §119 BetrVG geahndet werden kann – der Arbeitgeber sie also mündlich zu rechtswidrigem Verhalten auffordert. Ich bitte die Kolleg*innen nur zu handeln, sofern sie eine schriftliche Dienstanweisung erhalten, um sich selbst zu schützen und rechtlich abzusichern. Dennoch lassen sich zwei der fünf Leiter*innen zunächst einschüchtern und kommen der Anweisung nach.
Obwohl der Arbeitgeber uns an jeder Stelle des Weges bekämpft hat und uns nicht nur Steine sondern Felsbrocken in den Weg gelegt hat, trotz sämtlicher Einschüchterungsversuche findet die Wahl schließlich ordnungsgemäß statt. Die Wahlbeteiligung liegt bei 83 Prozent - ein Wert, der, wie ich finde, bei dieser Vorgeschichte deutlich für den Mut und die Entschlossenheit der Kolleg*innen spricht.
Massenkündigung
Am Tag vor der Bekanntgabe des Wahlergebnisses dann der Super-GAU: Sämtlichen Mitarbeiter*innen aller fünf Einrichtungen (neben der Autismusambulanz betrifft dies drei Kindertageseinrichtungen und eine Einrichtung der Kindertagespflege) wird die Kündigung nunmehr schon zum 31.07.2018 aus „wirtschaftlichen Gründen“ ausgesprochen. Man wolle das Sozialwerk zu diesem Termin auflösen. Herr Schnatmann setzt sich als Liquidator ein, zuvor war er bereits anstelle seines Schwiegersohns wiederholt als „höchste Entscheidungsinstanz“ für die Sozialwerk gGmbH im Rahmen der Betriebsratswahl aufgetreten.
Statt wie üblich die Kündigungen per Post zu versenden, lauert die Regionalleitung den Empfänger*innen persönlich während der Arbeit auf und bedrängt sie, den Empfang der Kündigung zu quittieren. Sofern sie den Empfang nicht quittieren würden, händige man ihnen das Kündigungsschreiben auch nicht aus, dann hätten die Betroffenen „eben nichts für den Anwalt“ (für eine etwaige Kündigungsschutzklage). Die Arbeitgeberseite scheint es sehr eilig zu haben, die Kündigungen noch an diesem Tag zuzustellen. Neben den Kündigungen selbst, hinterlässt eine solche Vorgehensweise ein starkes „Geschmäckle“:
Kündigungen bedürfen, um rechtswirksam zu sein, der Schriftform und müssen dem Arbeitnehmer tatsächlich zugegangen sein. Die Drohung der Regionalleitung ist damit völlig absurd. Mir drängt sich der Eindruck auf, man wolle vielmehr die juristische Unkenntnis der Arbeitnehmer*innen ausnutzen, um Druck aufzubauen und die Kündigungennoch „rechtzeitig“ vor Abschluss der Betriebsratswahl zuzustellen. Denn hätte es zu diesem Zeitpunkt bereits einen Betriebsrat gegeben, hätte er über umfangreiche Informationsrechte (etwa Einblick in wirtschaftlichen Angelegenheiten) und Mitbestimmungsrechte (z. B. bei Kündigungen) verfügt. In dieser Form hätte es die Kündigungen, mit vielfach rechtswidrigen, deutlich zu kurzen Kündigungsfristen, dann sicherlich nicht gegeben. Warum das Sozialwerk plötzlich innerhalb kürzester Zeit liquidiert werden muss oder wie es genau weitergeht, erfahren die Kolleg*innen nicht. Stattdessen kocht die Gerüchteküche über. Herr Schnatmann wolle vor allem die lukrativen Immobilien in der Südvorstadt (Autismusambulanz) und in Connewitz (Kita Biedermannstraße) veräußern, die in den letzten Jahren deutlich im Wert gestiegen sind. Der Verbleib der Einrichtungen und damit auch der betreuten Personen sei für ihn nachrangig – vom Wohl der Arbeitnehmer*innen einmal ganz abgesehen.
Parallel dazu eskalieren Teambesprechungen. In der Autismusambulanz werden Mitarbeiter*innen vor versammelter Mannschaft angegriffen und beschimpft. Die Initiatoren der Wahl und der Wahlvorstand müssen sich anhören, sieseien „Bombenleger“. Aufgrund ihrer Bemühungen für eine Wahl – einem Interesse einiger weniger – würde jetzt die gesamte gGmbH geschlossen werden. Dass der Wahlvorstand gesetzlich verpflichtet ist, die Wahl durchzuführen und sie nur dann abbrechen darf, wenn sich keine Kandidat*innen finden, wird völlig verkannt. Auch zeigt die Wahlbeteiligung, dass es sich bei der Betriebsratsgründung keineswegs nur um das Interesse einer kleinen Minderheit unter den Beschäftigten handelt.
So nicht, Herr Schnatmann! Sie trauen sich noch, ihr Unternehmen tatsächlich Sozialwerk zu nennen?
Die Anfrage der GEW mit der dringenden Bitte um einen Gesprächstermin lässt Herr Schnatmann über die Kanzlei seines Sohnes beantworten: Er sehe nicht die geringste Veranlassung mit der GEW in den Diskurs zu treten. Die Antwort überrascht niemanden. Ich werde trotzdem tätig. GEW und ver.di sind sich einig, ein solches Vorgehen ist unglaublich und völlig inakzeptabel. Neben der erneuten Prüfung von Kündigungsschutzklagen fordert die GEW das Sozialwerk daher zu Sozialtarifverhandlungen auf, um zumindest den Betriebsübergang oder die -schließung noch sozialverträglich zu gestalten. Auch die Kolleg*innen sind kämpferisch gestimmt und wollen geeint durch die Erlebnisse nicht kleinbeigeben. Während sie kaum an der Institution Sozialwerk hingen und sicher schnell eine neue Stelle finden würden, möchten sie die Kinder und betreuten Personen „nicht im Stich lassen“. So nimmt u. a. der Betriebsrat seine Tätigkeit auf und fordert seine Beteiligung ein, wird jedoch weiterhin blockiert. Jeder noch so kleine Schritt muss juristisch durchgesetzt werden. Der Arbeitgeber verfolgt seine bisherigen Strategien: Sich unwissend stellen, gar nicht reagieren oder die Rechtmäßigkeit rechtskonformer Handlungen in Frage stellen, um so Zeit zu schinden.
Daher bemühen wir uns u.a. mit den übrigen Akteuren in Kontakt zu kommen. Wir tauschen uns mit der Stadt Leipzig aus, die ebenfalls völlig unvorbereitet von dieser Entwicklung getroffen wurde, und mit an der Übernahme interessierten Trägern. In enger Zusammenarbeit mit den frisch gewählten Betriebsrät*innen wird erneut eine Betriebsversammlung in der GEW einberufen. Zu dieser erscheint u. a. ein Vertreter der bundesweit tätigen Geschäftsführung des Trägers Fröbel aus Berlin (zu diesem Zeitpunkt der wahrscheinlichste Kandidat für eine Übernahme) und Vertreter*innen des Fröbel-Betriebsrates in Leipzig. Auf diese Weise können die Kolleg*innen zumindest ihre Fragen klären, sich zu Übernahmekonditionen informieren und auf dieser Grundlage eine informierte Entscheidung über die eigene berufliche Zukunft treffen. Daneben organisieren die Mitarbeiter*innen der Autismusambulanz eigeninitiativ den Austausch mit dem Träger Berufsbildungswerk Leipzig (BBW) zu möglichen Anstellungskonditionen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses beim Sozialwerk.