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Lehrer*innenbildung

Zur Zukunft der Lehrer*innenbildung

Über die Bildung von Lehrer*innen nachzudenken bedeutet unter anderem, sich die Anforderungen bewusst zu machen, die an das System Schule und seine Beteiligten gestellt werden. Aus gesellschaftlichen Diskursen zu Themen wie Erziehung, Gewaltprävention, Inklusion, Digitalisierung oder Demokratiebildung lässt sich schlussfolgern, dass Lehrkräfte mit immer zahlreicheren und vielfältigeren Aufgaben konfrontiert werden, die weit über ihre ursprüngliche Verantwortung für die Gestaltung erfolgreicher Lernprozesse hinausgehen.

Fahrraddemo im Juli 2020
Erste Fahrraddemo im Juli 2020 gegen das Handeln der Universität Leipzig, die die wissenschaftlichen Stellen auslaufen ließ und neue Stellen als Lehrbeauftragte mit besonders hohem Lehrdeputat im Lehramt einrichtete

Positiv formuliert ergibt sich ein spannendes Berufsbild, das große Herausforderungen bereithält und viel Spielraum für Engagement, Eigeninitiative und Gestaltungswillen eröffnet. 

Eine Lehrer*innenbildung, die dieser Aufgabe gewachsen ist, sollte folglich die mutigsten und kreativsten Menschen hervorbringen und sie dazu befähigen, das System kontinuierlich umzugestalten, sodass die Schule jederzeit flexibel in der Lage ist, Kinder und Jugendliche für ein Leben in einer sich rasant wandelnden Welt vorzubereiten.

Bildung für die Zukunft statt Ausbildung für den Status quo

Es ist sehr wünschenswert, dass den prägenden Themen unserer Zeit zunehmend ein inhaltlicher Platz im Lehramtsstudium zukommt. Bereiche wie Demokratieerziehung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Inklusion und digitale Medien gehören aktuell zu wichtigen Aufgaben und großen Herausforderungen, welche an das Schulsystem herangetragen werden. Wenn diese Themen allerdings nur im Wahlbereich des Lehramtsstudiums angesiedelt sind, ist es schwer, sie flächendeckend in den schulischen Alltag zu übertragen. 

Es ist verständlich, dass sich Eltern und Schulen Absolvent*innen wünschen, die befähigt sind, Schüler*innen gut zu unterrichten – und zwar in allem, was diese Schüler*innen für eine gelungene Teilhabe in unserer Gesellschaft benötigen. Die Lösung dafür kann aber nicht heißen, das Studium inhaltlich immer umfangreicher und festgelegter zu gestalten. 

Transparente machen Besucher*innen auf die Missstände aufmerksam
Ende Juli 2020 richten sich Protestierende im ‚altehrwürdigen‘ Leipziger Rektoratsgebäude in der Ritterstraße häuslich ein und machen mithilfe von Transparenten Besucher*innen auf die Missstände mit dem Motto #keineLehreohneZukunft aufmerksam

Unsere Welt verändert sich zu rasant und mit ihr auch die Herausforderungen, die an Lehrkräfte gestellt werden, um dem mit der gutgemeinten Strategie entgegenzutreten, alle potenziell relevanten Inhalte im Studium abbilden zu wollen. Selbst wenn es ernstgemeinte Versuche gäbe, den Stoff aus dem Studium zugunsten neuer Herausforderungen an anderer Stelle entsprechend zu kürzen (und jede Person, die bereits einen derartigen Vorstoß in hochschulpolitischen Kreisen gewagt hat, wird vermutlich zustimmen, dass die Realisierung dessen unwahrscheinlich ist), verbleibt ein strukturelles Problem. 

Ein Abbilden aller relevanten Inhalte, die Lehrkräfte für ihre berufliche Tätigkeit benötigen, ist allein wegen der Verzögerung nicht möglich, mit welcher sich neue Inhalte zuerst in der Wissensbasis von Dozierenden etablieren müssen, dann in Studienordnungen Einzug halten, später an angehende Lehrkräfte weitergegeben und durch diese dann in den Unterricht eingebracht werden. 
Selbst wenn wir zur Beschleunigung dieser Prozesse erfolgreich an Stellschrauben drehen und beispielsweise anfangen, Studienordnungen schneller und radikaler zu verändern oder in Schulen eine funktionierende Infra­struktur für kollegialen Austausch und Multiplikator*innen-Effekte zu fördern, werden Lehrkräfte in einem solchen verschulten Studium lediglich für Herausforderungen gewappnet, die zur Zeit ihres Studiums real existieren. 
Es wird spätestens im Diskurs zur Digitalisierung, aber unterschwellig auch bereits in anderen Bereichen klar, dass diese Herangehensweise der Geschwindigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen nicht gerecht werden kann. Kritisch wäre es außerdem, wenn das Lehramtsstudium im Zuge immer ausdifferenzierterer Module zunehmend zu einem oberflächlichen Anreißen von immer mehr Themen verkommt, in einer Fülle, in der kein tiefergehendes Selbststudium mehr möglich ist, keine gute Betreuung und keine didaktisch sinnvollen Prüfungsleistungen. 
Wir haben also keine andere Wahl, als Lehrkräfte derart zu bilden, dass sie für mehr als den Umgang mit spezifischen Herausforderungen geschult werden. Vielmehr muss ihnen eine persönliche Entwicklung ermöglicht werden, die sie dazu befähigt, mit jeglichen zukünftigen Herausforderungen umzugehen und auch Schüler*innen dazu zu befähigen. 
Eine Grundlage für diese Zielstellung kann die Sicherung des akademischen Anspruchs an das Studium darstellen. Dies würde für die Praxis zum Beispiel bedeuten, mehr Vertiefungs- und Wahlmöglichkeiten zu schaffen, im Rahmen derer fachlich sowie methodisch auf einem intensiven Niveau wissenschaftlich gearbeitet und diskutiert werden kann. So gut sich die Notwendigkeit zahlreicher Inhalte begründen lässt, so einig wären sich vielleicht alle Beteiligten, dass dies zu einem Abfragen oberflächlicher stichpunktartiger Zusammenfassungen führt und dieses Vorgehen eigentlich von keiner Seite aus erwünscht ist. 

Lehramtsportfolio 2021
Eine gekürzte Version ist zuerst im Kritischen Lehramtsportfolio 2021 erschienen: www.gew-sachsen.de/klp

Durch schlankere Modulpläne könnte unter besseren Betreuungsbedingungen mehr Selbststudium ermöglicht werden, das für die zukünftige Entwicklung und lebenslanges Lernen der angehenden Lehrkräfte essenziell ist. Dozierende hätten zudem nicht nur mehr Zeit zur Betreuung ihrer Studierenden, sondern könnten außerdem sinnvollere Prüfungsformate durchführen, die über Abfragen und Multiple-Choice hinausgehen und damit einen wertvollen Beitrag zur Qualität des Studiums und des entsprechenden Abschlusses leisten. 

In dem Maße, in dem Lehrkräfte mit einer forschenden und kritischen Einstellung eine Vorbildfunktion für Schüler*innen erfüllen, tun dies Dozierende für Lehramtsstudierende. Dozierende haben den wertvollen Auftrag, durch Inhalte und durch die methodische Gestaltung ihrer Lehre Studierenden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse nahezubringen und sie nicht zuletzt von einer wissenschaftsbasierten Herangehensweise und der Notwendigkeit lebenslangen Lernens zu überzeugen. 
Wenn Dozierende im Lehramtsbereich aber durch erhöhte Lehrdeputate von eigener Forschung abgehalten werden und durch immer größer werdende Kohorten ihre Betreuungszeiten massiv verringern müssen, wird dieses Potenzial verspielt. 
Damit die Lehramts-Professuren im Angesicht von Exzellenzbestrebungen der Universitäten und der damit einhergehenden Mittelverteilung nicht abgehängt werden, müssten Anreize für Universitäten geschaffen werden, lehramtsbezogene Forschung und gute Lehre zu fördern und damit den Stellenwert der gesamten Lehramtsstudiengänge in der Gesellschaft zu stärken.#

Praxisschock und Theorie

Unter dem Begriff Praxisschock wird ursprünglich ein „nicht Klarkommen“ mit den Anforderungen in Schulen und eine emotionale Erschöpfung verbunden (Dicke et al. 2016). Als Lösungsvorschlag wird regelmäßig gefordert, mehr Praxis in die Studiengänge einzubinden. Aber kann der sogenannte Praxisschock nicht sogar ein gutes Zeichen sein? Ein wertvolles Geschenk, weil so aufdeckt wird, wo die Diskrepanzen zwischen aktuellen bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen und dem praktischen Berufsfeld von Lehrkräften im gegenwärtigen Schulsystem liegen und dadurch auch die wichtigsten Entwicklungsbereiche des Systems offenbart werden? 
Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass sich junge Lehrkräfte nicht ohne jeden Konflikt in ein System einfügen, von dem sie im Studium jahrelang gelernt haben, wie problematisch es für Kinder und Jugendliche sein kann? Beispielsweise im Bereich der Bildungssoziologie, die angehenden Lehrkräften im Studium offenbart, wie ein dreigliedriges Schulsystem Ungleichheiten reproduziert und damit Teilhabechancen in unserer Gesellschaft ungerecht „verteilt“ werden? Oder im Bereich der pädagogischen Psychologie, in welchem Studierende lernen, dass es sinnvollere Motivationsanreize gibt als Leistungsbewertung und Wettbewerb?

Wenn Studierende die Universität verlassen, sind sie vor allem in theoretischen Fragen Expert*innen für gute Bildung – und das ist auch nicht überraschend oder problematisch. Mentor*innen im Vorbereitungsdienst werden im nächsten Schritt zu Vorbildern der Praxis, die allerdings ohne verpflichtende Zusatzqualifikation in theoretischen Fragen neuester fachdidaktischer und pädagogischer Forschung nicht unbedingt auf dem Kenntnisstand der Absolvent*innen sind. So kann es dazu kommen, dass im Rahmen des Vorbereitungsdienstes Unterricht als erstrebenswert dargestellt wird, der nicht dem Anspruch aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse entspricht. 
Außerdem kann es zu inneren Konflikten führen, wenn die eigene Identität von Berufsanfänger*innen auf den bisher erlangten Kenntnissen aufbaut und sie den Wert ihrer Arbeit an den Maßstäben der universitären Leh­rer*innenbildung messen – diese Kenntnisse und Maßstäbe in einer schulpraktischen „So wird das hier gemacht“-Mentalität aber keine große Rolle spielen. Auf diese Weise entsteht eine Distanz zu Theorie und Wissenschaft, die engagierte Berufsanfänger*innen verständlicherweise frustrieren kann. 
Im Rückschluss müssten Mentor*innen Zeit und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich regelmäßig fachdidaktisch fortbilden können. Wir brauchen nichts Geringeres als einen „Theorieschock“ aller berufstätigen Lehrkräfte als Gegengewicht. 
Angehende Lehrkräfte sollten als Chance gesehen werden, neue Erkenntnisse in die schulische Praxis zu integrieren und sich auf alte Erkenntnisse zurückzubesinnen. Wir müssen eine Offenheit in Kollegien etablieren und Formate entwickeln, die Begegnungen ermöglichen, in denen erfahrene Lehrkräfte auf Augenhöhe mit Absolvent*innen über Bildungstheorien und -konzepte diskutieren können.
Dazu ist es aber nötig, einige Grundsätze zu vergegenwärtigen und die Lehrer*innenbildung danach auszurichten: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse – beispielsweise zu Diagnostik im Bereich der Entwicklungspsychologie oder auch Techniken der Binnendifferenzierung in den Fachdidaktiken – bereiten angehende Lehrkräfte im besten Fall darauf vor, mit den Herausforderungen eines inklusiven Schulsystems umzugehen. Aber wo wird beim Praxisstart die Zeit gewährt, diese vielfältigen Kenntnisse in praktische Anwendung zu überführen und damit zu festigen? Es kommt erschwerend hinzu, dass viele Mentor*innen diese Inhalte nicht kennen. 
Studierende haben außerdem gelernt, wie man theoretisch schüler*innenzent­rierten, leistungsdifferenzierten  und kognitiv aktivierenden Unterricht vorbereitet. Selbstverständlich kostet dies mehr Zeit, als Lehrbuchaufgaben für eine homogenere Schüler*innenschaft bereitzustellen, was nun nicht mehr dem eigenen Anspruch entsprechen kann. Die zeitlichen Ressourcen im Vorbereitungsdienst und auch danach können allerdings nicht genügen, um die erlernten hohen Maßstäbe umzusetzen. Es müssten Freiräume geschaffen werden, sodass dieses wichtige Wissen Impulse für die unterrichtliche Praxis des gesamten Kollegiums generieren kann.

Mehr Entlastung, besseren Austausch und digitales Lernen ermöglichen

Wir brauchen weiterhin zeitliche Entlastung und Unterstützung an anderen Stellen, wo immer es möglich ist, beispielsweise durch externes Fachpersonal aus Sozialarbeit und Förderpädagogik und dessen geschickte Einbindung in schulische Strukturen. 
Auch die Unterstützung von IT-Fachkräften an Schulen, die IT-Infrastruktur konzipieren, Geräte warten und eine unkomplizierte Bereitstellung von Lehr- und Lernmaterialien ermöglichen, kann Lehrkräften eine große Hilfe sein. Digitale Konzepte sicher und nachhaltig zu gestalten und Schüler*innen digital zu bilden, ist eine zu anspruchsvolle Aufgabe, um sie ohne externe Expert*innen für IT, Mediennutzung und Interaktionsdesign bewältigen zu können.

Die beschriebenen Diskrepanzen allerdings dadurch auflösen zu wollen, dass sich die Lehrer*innenbildung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen entkoppelt und stattdessen Lehrkräfte gezielter auf ein reibungsloses Unterrichten ‚in alten Bahnen‘ vorbereitet, wäre offensichtlich eine rückwärtsgewandte und falsche Reaktion. Vielmehr sollte gefragt werden, wie in Kollegien eine bessere Atmosphäre für Austausch und Kooperation geschaffen werden kann, sodass Raum für alle nötigen Auseinandersetzungen entsteht. Wie eine Hospitationskultur entstehen kann, in der es als konstruktiv und gewinnbringend gesehen wird, Unterrichtstätigkeiten stärker zu diskutieren und mehr auszuprobieren. Wie kollegial eine unterrichtliche Praxis entwickelt werden kann, welche den Unterricht gemäß dem idealen Kompass aktueller Forschung ausrichtet.
Ansätze hierfür finden sich zum Beispiel in manchen studienbegleitenden Praktika, wenn Unterricht im Team geplant und umgesetzt wird. Im Anschluss können Schwächen und Stärken der Unterrichtsplanung, an der alle beteiligt waren, konstruktiv diskutiert werden. 
Teamteaching, mehr Zeit für institutionalisierten, kollegialen Austausch sowie eine Anerkennung durch die Reduktion des Lehrdeputats für diesen Austausch sind also mögliche Entwicklungsfelder der innerschulischen Lehrer*innenbildung. 
Außerdem könnte etwas getan werden, indem angehenden Lehrkräften bereits im Studium ein Handlungsspielraum zum eigenen Vorgehen gegen die beschriebenen Diskrepanzen aufgezeigt wird. Es müsste dafür in allen Bereichen klar kommuniziert werden, dass es großen Aktualisierungsbedarf in den Schulen gibt und somit den Studierenden sowie berufstätigen Lehrkräften vermittelt werden, dass die Studienkenntnisse angehender Lehrkräfte in der Schulpraxis einen wichtigen Beitrag zur Schulentwicklung leisten können und sollen.
Forderungen, wie sie in diesem Text aufgeworfen wurden, werden oft mit Verweis auf die schon sehr begrenzten zeitlichen Kapazitäten der unterrichtenden Lehrer*innen vor dem Hintergrund des grassierenden Lehrer*innenmangels abgetan. Letzteren versucht man über potentielle Anreize wie die flächendeckende Einführung der Verbeamtung oder durch finanzielle Zuschläge für Lehrer*innen in ländlichen Regionen zu bekämpfen – meist ohne Erfolg. 
Es wäre eine ernsthafte Überlegung wert, den Lehrer*innenberuf nicht allein über bessere Bezahlung, sondern über die Herstellung eines für gerade junge und vielleicht auch idealistische Lehrer*innen angenehmeren Arbeitsumfeldes attraktiver zu machen. 

 

Johanna Mehler, Felix Fink
verfasst für die Konferenz Sächsischer Studierendenschaften

 

Zum Weiterlesen:
W. Adorno, T. (1977). „Tabus über dem Lehrberuf.“ In Gesammelte Schriften. 
Kulturkritik und Gesellschaft II, 656-673. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 
Dicke, T., Holzberger, D., Kunina-Habenicht, O., Linninger, C., Schulze-Stocker, F., Seidel, T., Terhart, E., Leutner, D. & Kunter, M. (2016). „Doppelter Praxisschock auf dem Weg ins Lehramt? 
Verlauf und potenzielle Einflussfaktoren emotionaler Erschöpfung während des Vorbereitungsdienstes und nach dem Berufseintritt.“ Psychologie in Erziehung und Unterricht, 63. 244 –257.

Johanna Mehler
hat Gymnasiallehr­amt für Musik und Mathematik in Leipzig studiert und nach mehreren Jahren der Mitarbeit in hochschulpolitischen Gremien,
zuletzt als Referentin für Lehramt der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften, studiert sie nun im Master Data Science for Public Policy in Berlin.


Felix Fink
war mehrere Jahre Referent für Lehramt im Student*innenRat der Universität Leipzig und setzte sich in verschiedenen Gremien der Lehrer*innenbildung
für eine Entschlackung und damit für ein möglichst selbstbestimmtes Studium ein. 
Heute vertritt er die Interessen aller Studierenden als Beauftragter für studentische Angelegenheiten der Universität Leipzig
gegenüber den Organen der Hochschulleitung und verantwortet den Arbeitsbereich Hochschulpolitik der Konferenz sächsischer Studierendenschaften.

Quelle für Bild Fahrraddemo: 
www.twitter.com/FSR_Ewi