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Berufsbildende Schulen

Warum unsere Klassenlehrer*innen dringend Entlastungen brauchen

Im vergangenen Schuljahr wurde von der GEW Sachsen eine Arbeitszeitstudie an Grundschulen, Oberschulen und Gymnasien in Auftrag gegeben. Auch wenn die Beruflichen Schul­zentren nicht Teil der Studie sind, stellen sich Fragen der Belastung der Kollegien im Hinblick auf Zeit und Umfang natürlich auch hier.

Exemplarisch lässt sich dies u. a. an der Klassenleitertätigkeit an BSZ darstellen. 

Ausgangspunkt meiner Betrachtung ist, dass es die „Berufsschule“ als solche nicht gibt. Im Gegenteil, die BSZ beherbergen eine Vielzahl sehr heterogener Bildungsgänge. Das reicht von Teilzeitklassen in der dualen Ausbildung, der Berufsfachschule, der Fachschule usw. bis zu einer Vielzahl von Vollzeitklassen, mit sehr unterschiedlichen Bildungsansätzen. Genannt seien an dieser Stelle das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ), das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ), die Berufsschulpflicht­erfüller*innen, Vorbereitungsklassen an berufsbildenden Schulen, die duale Berufsausbildung mit Abitur in Sachsen (DUBAS), das Berufliche Gymnasium (BGy), die Fachoberschule und weitere Fachschulbildungsgänge. Alle diese Bildungsgänge sind sowohl in der Ausrichtung als auch im Schüler*innen-Klientel sehr unterschiedlich. 
Sie werden aber von den Lehrkräften „gemeinsam“ beschult. Denkbar wäre ein Schultag, der eine Lehrkraft von der dualen Ausbildung über das BGY bis zum BVJ führt. So kann auch die Klassenleiter*innen-Tätigkeit in unterschiedlichen Bildungsgängen zur Schuljahresrealität, mit den verschiedensten Aufgaben und Rollen, werden.
Realität ist zudem, dass die Anzahl der Klassen im Blocksystem, innerhalb der Ausbildungsjahre, oft sehr hoch ist. An meinem BSZ ist es z. B. so, dass das jeweilige erste Ausbildungsjahr in den fahrzeugtechnischen Berufen im Schnitt 6- bis 7-zügig beschult wird. Über drei Unterrichtsblöcke bedeutet es für die Kolleg*innen, dass sie in der Regel mindestens zwei, eher drei Klassen – eine pro Block – als Klassenlehrer*in betreuen. Bei einer Klassengröße von 28 Auszubildenden sind es also rechnerisch bis zu 84 Schüler*innen. Oft ist die Zahl durchaus noch höher, da die Fluktuation innerhalb der Klassen zum Teil groß ist, u. a. durch Zu- und Abgänge bis zum letzten Block vor Schuljahresende.

Welche Aufgaben habe ich als Klassenlehrer*in an einem BSZ? Zunächst einmal die Aufgaben, die an Grund-, Förder-, Oberschulen und Gymnasien ebenfalls anfallen. Man ist Ansprechpartner*in und Organisator*in (z. B. Schulfahrten und Exkursionen), Verwalter*in für Schüler*innenakten und Belehrer*in, „Sozialarbeiter*in“, Bildungsberater*in, Tutor*in oder Studienberater*in, Moderator*in auf Lernplattformen, führt die sogenannten Ordnungsmittel und erstellt Zeugnisse. Im Blocksystem sind es übrigens drei Zeugnistermine, d. h. dreimal Notenhefte prüfen, dreimal Dateien ausfüllen, drucken, unterschreiben, austeilen und Rückmeldungen/Anfragen/Beschwerden bearbeiten und evtl. nachtragen oder korrigieren. 

Wesentliche Unterschiede zeigen sich dann anhand der verschiedenen Bildungsgänge. Ich bleibe zunächst einmal exemplarisch bei der dualen Ausbildung. In welchem Ort der Auszubildende beschult wird, richtet sich zunächst nach der Teilschulnetzplanung. Kann der Beruf „vor Ort“ beschult werden, hat der Auszubildende kurze Wege. Ist dies nicht der Fall, muss er zum jeweiligen Ort der Beschulung reisen. Das kann im Freistaat Sachsen sein, der Weg kann aber auch in ein anderes Bundesland führen. Dies betrifft u. a. eher zahlenmäßig kleinere Ausbildungsberufe, die dann in Landesfachklassen oder länderübergreifenden Fachklassen beschult werden. In meiner Aufgabe als Klassenlehrer*in wird die Arbeit dabei aufwendiger, da allein schon die räumliche Distanz zu den Ausbildungspartner*innen wesentlich größer ist, als an allgemeinbildenden Schulen. Zudem sind die Schüler*innen nur ca. 1/4 der Ausbildungszeit in der Schule anwesend. Der direkte Kontakt ist so ein geschränkt und engt die Möglichkeiten zur persönlichen Betreuung bzw. zum persönlichen Klären von Problemen enorm ein.

Mit wem muss ich als Klassenlehrer*in an einem BSZ den Kontakt halten? Auch hier ist die Antwort eher eine längere Aufzählung. Es sind u. a. Ausbildungsbetriebe, Sorgeberechtigte, Kammern, freie Bildungsträger, Ansprechpartner*innen für Auszubildende mit Migrationshintergrund und im Einzelfall auch Bewährungshelfer.

Erfolgt der Wechsel der Schüler*innen länderübergreifender Fachklassen erst zur Fachstufe (ab 2. Ausbildungsjahr) sind die Klassenlehrer*innen oft auch Expert*innen im Schulrecht anderer Bundesländer, z. B. wenn Noten aus der Grundstufe übertragen werden müssen. Oft sind hier Fächerbezeichnungen oder Inhalte von Bundesland zu Bundesland nicht kompatibel. 

Ein weiterer Unterschied ist, dass duale Klassen oft die eingangs beschriebene Fluktuation aufweisen. Jugendliche sind, gerade zum Beginn der Ausbildung, oft noch in ihrer Findungsphase. Da gibt es keine Garantie, dass ein Wunschberufsbild auch das abbildet, was erträumt wurde. Auch ein Ausbildungsbetrieb kann sich als ein Ort erweisen, der eine erfolgreiche Berufsausbildung schwer oder unmöglich macht. Wechsel und Ausbildungsab- bzw. -umbrüche sind so nicht selten. Zudem führt die Probezeit nicht nur vereinzelt zum Ausbildungsende. Durch einen späteren Einstieg in die Ausbildung und insbesondere die Aufnahme von EQJ-Schüler*innen ist mit einer halbwegs stabilen Klasse erst ab ca. den Weihnachtsferien des Schuljahres zu rechnen. Für unsere Klassenlehrer*innen heißt es in der Praxis, dass sich Ordnungsmittel/Klassenbücher und Klassen in Lernplattformen permanent verändern und über das gesamte Jahr hinweg Schüler*innen begrüßt, eingewiesen/belehrt und Lernmittel ausgegeben werden. Zudem ist die Vorbereitung der Zeugnisse so wesentlich komplexer. Und das nicht in einer Klasse, sondern in (oft) drei Klassen. 

Ein paar Sätze seien noch zu den Vollzeitklassen geschrieben. Hier konzentriere ich mich auf das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ). Zur Einordnung: Im BVJ finden sich Schüler*innen zusammen, die aus vielfältigen Gründen im System der allgemeinbildenden Schulen nicht zum Abschluss gekommen bzw. gescheitert sind. Im Rahmen einer Vollzeitbeschulung an den BSZ wird ihnen die Möglichkeit geboten, durch ein erfolgreich absolviertes Abschlussverfahren einen Hauptschulabschluss nachzuholen und so die eigenen Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern. Andererseits muss deutlich gesagt werden, dass die Abbrecher- und Schulverweigererquote immens hoch ist und häufig Disziplinschwierigkeiten an der Tagesordnung sind. Damit müssen die Klassenlehrer*innen im täglichen Geschäft umgehen. Sei es auf dem Feld der Verwaltung, mit Fehlzeiten- oder Vorfallerfassung und Meldung an die Ordnungsämter, sei es in Ausübung erzieherischer oder sanktionierender Maßnahmen (Anhörungen, Kontakt zu Sorgeberechtigten bzw. zuständigen Ämtern) und als quasi zweiter „Schulsozialarbeiter“ in Beziehung zu den Schüler*innen. Im Alltag überschreiten diese Tätigkeiten oft allein schon vom Zeitaspekt bei weitem den Unterrichtspart. Nicht zu reden von den Erlebnissen und Gedanken, die unsere Kolleg*innen dann später mit nach Hause nehmen. Eine spezielle Ausbildung für Lehrkräfte im BVJ gibt es zudem praktisch nicht. Die Arbeit erledigen fachlich ausgebildete Berufsschullehrer*innen, Lehrkräfte mit anderen Lehrämtern an BSZ (z. B. Oberschullehrer*innen oder Gymnasiallehrer*innen) und Seiteneinsteiger*innen. Die Lehrkraft an den BSZ „kann alles“ bzw. muss alles erledigen. Übrigens, einmal abseits vom Kontext des Artikels: Wir reden oft über Abminderungsstunden in der gymnasialen Kursstufe, die „K6“ bzw. „K9“. Wir sollten dringend über eventuelle „BVJ6“ oder „BVJ9“ reden! Unabhängig von der Klassenleitertätigkeit. 

An dieser Stelle möchte ich mit dem Exkurs enden, obwohl vieles noch nicht gesagt ist. Das BGy, die Fachschule und Fachoberschule habe ich nicht gesondert beschrieben, im BGJ und bei Berufsschulpflichterfüllern können einige Elemente der Tätigkeit als Klassenlehrer*in durchaus analog zum BVJ sein. Und nebenbei sind die Kolleg*innen ja noch Fachlehrer*in, Kammerprüfer*in oder Praxisbegleiter*in – mit flexiblem und entgrenztem Zeitmanagement. 

Ohne unserem Enthusiasmus, dem Berufsethos und (natürlich) ein wenig Stolz darauf, gerade „Berufsschullehrer*in“ zu sein, wäre es weder körperlich noch physisch leistbar. Und trotz oder vielleicht gerade deshalb, treibt es immer mehr Kolleg*innen an ihre persönlichen Grenzen und leider darüber hinaus. Entlastungen wären somit eine Pflichtaufgabe für den Arbeitgeber. 
Vor kurzem bin ich mal gefragt worden: „Brauchen Lehrkräfte an den BSZ auch eine Klassenlehrerstunde?“
Die Standardantwort ist: „Ja klar! Und mindestens zwei.“ Man wird ja mal träumen dürfen. Und das begründet.

Carsten Müller
Referatsleiter Schulische Bildung/
Mitglied im LHPR – FG Berufliche Schulen