Anmerkungen zur Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften
Vom Wiegen wird die Sau nicht fett…
Spätestens seit die sächsische Staatsregierung – stellvertretend für alle 16 Bundesländer – die Arbeitszeit und Zeitverwendung ihrer Lehrkräfte in einer repräsentativen wissenschaftlichen Studie untersuchen lässt, nimmt die Diskussion um die Arbeitszeiterfassung an Schulen neue Fahrt auf. Eigentlich geht es seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) 2019 nicht mehr um das „Ob“, sondern nur noch um das „Wie“, aber das wollen immer noch viele aus Angst vor den Ergebnissen nicht wahrhaben. In der Debatte werden verschiedene Themen vermischt, die man besser klar auseinanderhalten sollte:
1. Arbeitszeiterfassung ist kein Arbeitszeitmodell
In vielen Publikationen wird der Eindruck erweckt, die Erfassung der Arbeitszeit müsse zwingend einhergehen mit einem neuen Arbeitszeitmodell in den Schulen. Das ist ein Irrtum! Ein Arbeitszeitmodell dient der Planung und Steuerung des Arbeitseinsatzes. Auch das Deputatsstundenmodell, das seit über 100 Jahren an den meisten Schulen in Deutschland etabliert ist, ist ein Arbeitszeitmodell mit spezifischen Stärken und Schwächen, die wir alle kennen. Die Diskussion um neue Steuerungsmodelle des Arbeitseinsatzes an Schulen wird seit Jahrzehnten kontrovers geführt.
Die Arbeitszeiterfassung hingegen ist eine nachträgliche Dokumentation der Stunden und Minuten, in denen die Beschäftigten gearbeitet haben – in den Worten der EU-Arbeitszeitrichtlinie: … Es geht also um eine nachträgliche („ex post“) Erfassung, im Gegensatz zur Planung im Vorhinein („ex ante“) durch ein Arbeitszeitmodell. Sehr prägnant formuliert dies die Staatssekretärin Tschan im BMAS in einem Antwortschreiben an die KMK-Präsidentin vom August 2023: „Der Umstand, dass der konkrete Umfang der Arbeitszeit nicht in jedem Fall im Voraus feststeht, steht einer nachträglichen Dokumentation am Ende des Arbeitstages nicht entgegen.“
Die GEW hat sich zu dieser Frage mit ihrem Beschluss im Hauptvorstand im November 2023 klar positioniert: „…es wird nur erfasst, was gesetzlich erforderlich ist: Anfang, Ende und Pausen. (…) Die Arbeitszeiterfassung ist kein Instrument der Leistungs- und Verhaltenskontrolle. (…) Um die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer bei der Planung und Steuerung ihrer eigenen Arbeit zu unterstützen, kann eine differenziertere Erfassung verschiedener Tätigkeitencluster hilfreich sein. Diese Informationen dürfen nur der einzelnen Lehrkraft zur Verfügung stehen, nicht den Dienstvorgesetzten.“
Dabei dürfte unstrittig sein, dass die Aufzeichnung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden Rückwirkungen auf das praktizierte Arbeitszeitmodell haben kann und die Diskussion über die künftige Planung und Steuerung des Arbeitseinsatzes an Schulen beleben und befruchten wird. Es kann aber nicht oft genug betont werden, dass wir nicht auf neue Arbeitszeitmodelle (oder zumindest die Ergebnisse weiterer Modellversuche) warten müssen, bevor wir endlich anfangen zu erfassen.
2. Arbeitszeit und pädagogische Freiheit
Nur wenige Lehrkräfte haben vor ihrer Tätigkeit als Lehrer*in Erfahrung in Arbeitsumgebungen gesammelt, in denen Arbeitszeiterfassung seit Jahren üblich ist. Deshalb haben viele Kolleg*innen Bedenken, dass ihre pädagogische Freiheit eingeschränkt würde, wenn sie ihre Arbeitszeiten (gegenüber wem auch immer) offenlegen müssten.
Überall, wo Menschen hochqualifizierte Arbeit leisten, sind der Arbeitsinhalt und die Arbeitsintensität nur bedingt planbar und für Außenstehende kaum kontrollierbar. Trotzdem kann und muss die Zeit, die die Beschäftigten für die Erledigung ihrer Aufgaben verwenden, aufgeschrieben werden. Mit der zunehmenden Verbreitung von mobilem Arbeiten, insbesondere seit der Corona-Pandemie, gilt dies auch für das Arbeiten von zu Hause, wo die Zeit nur durch die Beschäftigten selbst erfasst werden kann. Auch die Ministeriums- oder Schulverwaltungsbeschäftigten, die den GEW-Vertreter*innen als Arbeitgebervertreter*innen gegenübersitzen, nehmen dies selbstverständlich für sich in Anspruch. Die Steuerung der Inhalte der Arbeit erfolgt dem gegenüber unabhängig von der Erfassung der reinen Arbeitszeit, sie ist Gegenstand von Personalführung, von Teambesprechungen oder ähnlichem. Dabei ist die in der Vergangenheit gemessene Arbeitszeit nur ein Parameter unter mehreren.
Dass dem gegenüber bei Lehrkräften immer wieder gefordert wird, es müsse auch dokumentiert werden, was die Beschäftigten im Einzelnen tun – und sei es in Form einer Zuordnung zu Tätigkeitsclustern – ist deprimierend. Es zeigt tiefsitzende Vorurteile und ein Misstrauen gegenüber der Arbeitsleistung von Lehrkräften, die sich auch in der Rechtsprechung vieler Verwaltungsgerichte zur Lehrkräftearbeitszeit zeigt. Dieses Misstrauen sollten wir als GEW auf das Schärfste zurückweisen. Zu erfassen sind Stunden und Minuten, Anfang, Ende und Pausen, sonst nichts. Eine ehrliche Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit unter der Verantwortung des Arbeitgebers und Dienstherrn kann einen Beitrag dazu leisten, die Vorurteile gegenüber den Lehrkräften zu entkräften.
3. Arbeitszeit ist nicht gleichbedeutend mit Arbeitsbelastung
So richtig und wichtig die Arbeitszeiterfassung ist, sie ist keine eierlegende Wollmilchsau. Durch das Aufschreiben der Arbeitszeit wird die Arbeitszeit (erst mal) nicht weniger. Außerdem ist es unstrittig, dass nicht jede Stunde Arbeit gleich anstrengend ist, zumal Arbeitsbelastung sehr subjektiv ist. Sie hängt – neben objektiven Faktoren – sehr stark von persönlichen Dispositionen und Lebensumständen ab, und gerade in Tätigkeiten mit Menschen auch sehr stark von den Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Ein gegenseitiges Aufrechnen – nicht zuletzt zwischen Lehrkräften verschiedener Schulformen und Unterrichtsfächer weit verbreitet! – führt an dieser Stelle nicht weiter.
Ist die Erfassung der Arbeitszeit deshalb unnötig oder gar ein bürokratisches Monster? Nein. Wenn wir uns der Grenzen der Arbeitszeiterfassung bewusst sind, kann sie uns helfen, in der Frage der Lehrkräftearbeitszeit und Arbeitsbelastung endlich ein paar Schritte weiter zu kommen. Denn, wie auch Frank Mußmann, der Autor vieler GEW-Arbeitszeitstudien, immer wieder betont: Wir haben kein Erkenntnis, sondern ein Umsetzungsproblem. Solange wir keine durch den Dienstherrn und Arbeitgeber verantwortete Dokumentation der Arbeitszeit haben, wird sich daran nichts ändern. Genau aus diesem Grund hat der EuGH 2019 den Mitgliedsstaaten aufgetragen, die Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu verpflichten: Nur so können sie ihrer Verantwortung im Arbeits- und Gesundheitsschutz gerecht werden.
4. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass?
Der EuGH hat sein Urteil zur Arbeitszeiterfassung damit begründet, dass der Arbeitgeber nur mit einer zeitnahen Erfassung der Arbeitszeit sicherstellen kann, dass die Ruhezeiten der Arbeitszeitrichtlinie eingehalten werden können. Diese wertete der EuGH als menschenrechtsgleiche Schutzrechte der Arbeitnehmer*innen. Im Umkehrschluss sagt der EuGH damit, dass ein regelmäßiges Nichteinhalten dieser Schutznormen erwiesenermaßen gesundheitsgefährdend ist. Durch die zahlreichen Studien zur Lehrkräftearbeitszeit ist bekannt, dass sehr viele Lehrkräfte gesundheitsgefährdend arbeiten, sei es durch regelmäßiges Arbeiten in der Nacht oder am Wochenende, sei es durch fehlende (echte) Pausen, oder schlicht durch überlange Arbeitszeiten.
Nun kann man sagen, dass die Lehrkräfte das doch freiwillig tun, es schreibt ihnen ja niemand vor. Das ändert aber nichts daran, dass ein solches Arbeitsverhalten auf Dauer gesundheitsgefährdend ist. Hier setzt nach Ansicht des EuGH die Verantwortung des Arbeitgebers ein. Es ist nun Aufgabe von klug formulierten Dienstvereinbarungen und verantwortungsvollen Vorgesetzten und Personalräten, in solchen Fällen nicht mit Verboten und Strafen zu reagieren, sondern die betreffenden Kolleg*innen zu unterstützen und zu fragen, woran das Arbeiten zu gesundheitsgefährdenden Zeiten liegt und wie man zum Besten aller Abhilfe schaffen kann. Daran wird die GEW auf allen Ebenen arbeiten.
Vom Wiegen und Messen…
Zusammenfassend können wir festhalten: Die Sau wird zwar nicht vom Wiegen fett, aber niemand käme deshalb auf die Idee, das Wiegen sein zu lassen. Das Ergebnis kann einen Hinweis darauf geben, ob die Sau gesund ist und ob sie genügend Futter bekommt. Die Erfassung und Dokumentation der Arbeitszeit wird dazu führen, dass die Dienstherren und Arbeitgeber sich ihrer Verantwortung stellen müssen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Versuch ist es wert!
Annett Lindner
Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der GEW
Gesa Bruno-Latocha
Referentin beim GEW-Hauptvorstand