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Lehrer*innen-Bildung zwischen Abfertigung und Emanzipation

Und der Zukunft zugewandt?

Anfang August hat eine Gruppe von Lehramtsstudierenden das Rektorat der Uni Leipzig besetzt. Dem vorausgegangen waren wochenlange Proteste des Bündnisses ‚Keine #LehreOhneZukunft‘, in welchem sich Student*innen, Dozent*innen und Professor*innen des Lehramts für bessere Bedingungen im Lehramtsstudium eingesetzt haben (siehe Infobox).

Der Protest hatte einen konkreten Anlass. Die Wucht, welche sich durch mehrere Demonstrationen in Leipzig sowie vor dem Landtag in Dresden und schließlich durch die Besetzung des Rektorats der Uni Leipzig ausdrückte, kann jedoch nur im Wissen um den Zustand der Lehrer*innen-Bildung in Leipzig und anderswo verstanden werden.

Das Lehramtsstudium bewegt sich, mindestens in den gesellschaftlichen Erwartungen, zwischen Ausbildung und akademischem Studium. Die Universität und der Staat im Allgemeinen haben es nie geschafft, an das Lehramtsstudium die Qualitätsansprüche anzulegen, welche in Anbetracht einer sich immer schneller entwickelnden Gesellschaft und großen globalen Herausforderungen so offensichtlich notwendig wären.
Immer noch geht man in der Staatsregierung und der Universitätsleitung davon aus, dass es hinreichend sei, den zukünftigen Lehrer*innen in standardisierten, monotonen und viel zu großen Seminaren und Modulen einen groben Überblick über die Schule und die schulische Bildung zu geben. Im Fokus steht nicht die Frage, welche Lehrer*innen Kinder und Jugendliche im 21. Jhd. benötigen, sondern eine ganz andere, die im Übrigen, auch wesentlich leichter zu beantworten ist:
Wie viele Studierende kann ich in welcher Zeit aus der Uni heraus auf den Lehrer*innenmarkt transferieren?

Dieser ganz offensichtliche Fokus ist nicht zu rechtfertigen, in der Logik des politischen Systems jedoch zu verstehen. Die Bildung ist eine der wenigen Aufgaben, welche den Bundesländern hoheitlich übertragen ist. Die Bildung, beziehungsweise real betrachtet leider nur die Frage, ob es genug Lehrer*innen gibt oder nicht, ist wahlentscheidend. Die Frage, was in der Breite im Lehramtsstudium und damit ‚in the long run‘ auch in der Schule passiert, ist viel schlechter zu messen und deswegen nicht im politischen und öffentlichen Fokus präsent.

An Expert*innen, welche diese Frage nach einem ‚guten Lehramtsstudium‘ beantworten können, mangelt es jedoch nicht. An der Uni Leipzig, welche zu jeder Zeit über 6.000 zukünftige Lehrer*innen ausbildet, gibt es einige hundert Dozierende, welche die optimalen Voraussetzungen mitbringen, um sich gemeinsam mit ihren Studierenden intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Genau hier macht die Universität Leipzig, mindestens gebilligt durch den Freistaat Sachsen, jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der überwiegende Teil der Dozent*innen im Lehramt ist so angestellt, dass aufgrund des riesigen Lehrdeputats [1] eine Weiterbildung und eine differenzierte Diskussion mit den Lehrer*innen der Zukunft über komplexe Fragen unmöglich ist.

Natürlich muss sich die berechtigte Frage gestellt werden, wer der richtige Adressat der Kritik ist. Die Universität, welche ganz überwiegend vom Staat finanziert wird, hat sich als Institution Freiheiten erkämpft, welche ihr eine weitgehende Selbstverwaltung erlauben. Auf der anderen Seite muss natürlich festgestellt werden, dass die Uni, gerade im Lehramt, vollständig auf die staatliche Finanzierung angewiesen ist. (mehr dazu im Absatz ‚Auf das Ganze schauen‘)

Welche Forderungen sind aus den Protesten, Demonstrationen und der Besetzung abzuleiten?
Die Ermöglichung guter Lehre durch gute Arbeitsbedingungen

Die Qualität der universitären Lehre ist untrennbar verknüpft mit der Qualität der Arbeitsbedingungen jener Menschen, welche die Lehre betreiben. Es liegt auf der Hand, dass eine Lehrende, welche 20 Stunden jede Woche geben muss und damit bis zu 400 Studierende betreut, eine qualitativ schlechtere Lehre machen muss, als eine Kollegin, welche acht Stunden pro Woche gibt und dementsprechend bis zu 160 Studierende in ihren Veranstaltungen sitzen hat. Letzteres war eigentlich der Regelfall – nicht jedoch im Lehramtsstudium. Hier treibt man nämlich seit Jahren die zu unterrichtende Wochenstundenzahl der Dozent*innen immer weiter in die Höhe.

Das hat direkte, ganz logische Folgen:

  • eine individuelle Betreuung, bei Hausarbeiten sowie im Studium allgemein, findet nicht statt
  • eine Wahlmöglichkeit für Themen der Seminare ist ausgeschlossen
  • die Prüfungsleistungen werden sich auf solche verdichten, welche mit sehr wenig Arbeitsaufwand, möglichst jedoch maschinell (Multiple-Choice-Test) korrigiert werden können
  • die didaktische Aufbereitung von Lehrveranstaltungen muss auf ein Minimum reduziert werden, weil man es gerade so schafft zur nächsten Lehrveranstaltung zu hetzen
  • die Studierenden haben große Probleme zwei Gutachter*innen für ihre Staatsexamensarbeit zu finden, jedenfalls in dem Bereich, in dem sie gerne schreiben würden
  • die Inhalte der Veranstaltungen werden veraltet und nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung sein
  • die Seminare werden noch überfüllter sein als sie es jetzt schon sind u. v. m.

Diesen Entwicklungen, welche schon seit Langem andauern, nun jedoch in ihrer Absurdität kulminieren, müssen wir Studierende und Dozent*innen, am besten gemeinsam mit den uns verbündeten Professor*innen, entschieden entgegentreten. Wenn dazu Mittel des gewaltfreien zivilen Ungehorsams notwendig sind, so sind diese zu ergreifen.

Die Entmachtung der Rektorate

Die scheinbar demokratische Organisation der Hochschulen wird allseits gelobt. In der konkreten Betrachtung der hier angesprochenen Problematik fällt jedoch auf, dass in vielen Fragen, insbesondere jenen über die Verwendung von Finanzmitteln und Anstellungsverhältnissen, das Rektorat die ausschließliche Entscheidungsgewalt hat. Und: Leider steht die Verwendung von finanziellen Mitteln (wie im letzten Abschnitt beschrieben) am Anfang von Verbesserungen, denn sie sind die Voraussetzung für weitergehende Maßnahmen.

Problematisch an der Übermacht der Rektorate ist, dass dort nur eine einzige Gruppe an Universitätsangehörigen vertreten ist: die Professor*innen. Strukturell ist zu beobachten, dass die Rektorate (nicht nur, aber auch an der Uni Leipzig) sich so weit von den Interessen der Beschäftigten und Studierenden entfernen, dass sie nicht mehr als tatsächliche Vertretung der Universitäten und ihrer Angehörigen gelten können. Zwingend notwendig ist also eine Demokratisierung der Hochschule [2], welche eine ausgeglichene Entscheidungsgewalt zwischen allen Statusgruppen beinhaltet [3]. Die Übermacht der Professor*innen und Rektorate ist zu brechen.
„Eine Besetzung des Rektorates ist symbolisch auch die Besetzung des Staates.“ (Prof. Thomas Hofsäss, Prorektor für Bildung und Internationales, amtierender Rektor zum Zeitpunkt der Besetzung)
Wenn es eine Mitbestimmung auf Augenhöhe gäbe, müsste das Rektorat auch nicht besetzt werden. Der Staat ist nicht nur die Regierung, der Staat sind alle, die in ihm leben. Das Rektorat ist nicht alleine die Universität, die Universität sind alle, die in ihr studieren, lehren, forschen und arbeiten. Wenn das Rektorat gegen das Interesse eines Großteils der Universitätsangehörigen agiert, kann es jederzeit als Form des demokratischen Protests besetzt werden, um auf Schieflagen hinzuweisen.

Auf das Ganze schauen – die Neoliberalisierung der Hochschule aufhalten

Die Entwicklungen an der Uni Leipzig, welche eine Prekarisierung des Mittelbaus und eine Verschulung des Studiums zur Folge haben werden, reihen sich in Maßnahmen ein, welche schon Jahre zurückliegen. Auch wenn die Rektorin Prof. Schücking gemeinsam mit ihren Prorektoren Prof. Hofsäss und Prof. Lenk sicher nicht gezwungen wäre, den Kahlschlag in diesem Ausmaß zu betreiben, so gibt es doch Gründe, welche sie zu diesen Entscheidungen treiben. Einige Punkte, welche allesamt Ergebnis einer Kapitalisierung des Bildungs- und Wissenschaftssystems sind, möchte ich kurz aufzeigen:

Hochschulautonomie im Kapitalismus

Die Hochschulautonomie bedeutet, dass die Hochschulen über ihr Handeln bzw. ihre Schwerpunktsetzung selbst entscheiden können. Diese scheinbare Entscheidungsfreiheit kann bei genauerer Betrachtung jedoch keinesfalls als Autonomie bezeichnet werden, weil die Hochschule immer mehr (heutzutage fast vollständig) in die kapitalistische Wirtschaftslogik eingebunden ist – Bereiche, welche formal nicht der freien Wirtschaft überantwortet werden können, werden sinngemäß übertragen. [4]

Spitzenforschung statt Breitenerfolg

Die Universitäten sind heute fast vollständig auf Drittmittel (Gelder aus der Wirtschaft oder staatlichen kurzfristigen Förderern) angewiesen. Um diese zu bekommen, muss sich jede Universität gegenüber den ‚Konkurrentinnen‘ deutschlandweit und insbesondere auch global beweisen. Die Uni Leipzig steht bei der wissenschaftlichen Anerkennung sehr schlecht da, angesehene Forschung betreibt sie nur in ganz wenigen Bereichen. Um an die sogenannte Spitzenforschung anzuschließen, muss man einzelne Bereiche ‚aufbauen‘, also stark aus eigenen Geldern fördern, damit diese in Zukunft viel Geld von Dritten bekommen. Also spart man in der Lehre: man erhöht die Lehrverpflichtung und reduziert das Personal in Bereichen, in denen sowieso (in der neoliberalen Logik) nichts zu holen ist, wie im Lehramt.

Geschwindigkeit, Output, Zahlen

Gemessen wird die ‚Leistung‘ einer Universität heute nicht etwa in Befragungen zur Qualität der Lehre unter den Studierenden oder die Ermittlung des Betreuungsverhältnisses. Eines der Messinstrumente der neoliberalen Wissenschaftspolitik ist die sogenannte Exzellenzinitiative, hier werden ‚besondere‘ Bereiche (‚Cluster‘) einer Uni gefördert. Die Uni Leipzig hat hier keinen einzigen als ‚exzellent‘ gelabelten Bereich vorzuweisen. Unser Rektorat möchte das ändern – auf wessen Kosten?
Während der Proteste wurden wir Lehramtsstudierenden und -dozierenden von den Parteien der SPD, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen sowie den Hochschulorganisationen der Linken (SDS) und der SPD (Jusos) unterstützt. Es ist teils gelungen, die konkreten Verschlechterungen an der Uni Leipzig in den großen Zusammenhang der Neoliberalisierung der Hochschulen einzuordnen.
Das Sichtbarmachen umfassender Probleme, welche sich an verschiedensten Stellen zeigen – sei es nun die schlechte Behandlung des Lehramts oder die Verdrängung der sogenannten ‚kleinen Fächer‘ – muss unsere Aufgabe sein. Eine Zusammenarbeit von Dozent*innen und Student*innen ist hierbei unerlässlich, auch wenn insbesondere die Dozent*innen mit befristeten Verträgen Repressionen von Seiten der Universitätsleitung befürchten. Ich bin froh, dass wir während unserer Proteste von Dozierenden aus fast allen Bereichen der Universität – wenn auch oft im Hintergrund – unterstützt wurden. Eine solche Unterstützung kann genauso gut das ‚Zuspielen‘ von diversen Informationen über das Sammeln von ‚Vorfällen‘ bis hin zum Versorgen mit Nahrungsmitteln während der Besetzung sein.

Unsere Wut gilt der Kapitalisierung des Studiums im Großen genau wie der Überlastung unserer konkreten Dozent*innen im Kleinen. Deshalb: Bildet euch, bildet andere, bildet Banden!

Proteste unter dem Motto ‚Keine #LehreOhneZukunft‘

Worum geht es?

  • aufgrund einer endenden Finanzierungsquelle (‚Bildungspakt‘) enden die Verträge der meisten Dozierenden zum 31.12.2020, ab da wird die Lehramtsbildung aus dem sog. ‚Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken‘ finanziert, Dozent*innen werden neu eingestellt
  • das Rektorat der Uni Leipzig hat den Umbruch zum Anlass genommen, die Arbeitsbedingungen eines Großteils der Dozent*innen zu verschlechtern, insbesondere durch die Erhöhung der wöchentlich abzuleistenden Lehrstunden von 16 auf 20 Stunden bei den sogenannten Lehrkräften für besondere Aufgaben (welche die allermeisten Veranstaltungen geben) sowie durch Stellenkürzungen
  • die Maßnahmen des Rektorats werden Konsequenzen auf die Qualität des Studiums haben, da die Dozent*innen noch weniger Zeit für die Betreuung der Studierenden, die Vor- und Nachbereitung der Veranstaltungen sowie die eigene Weiterbildung haben werden
  • es ist zu befürchten, dass es einige ‚Nebenerscheinungen‘ durch die Maßnahmen des Rektorats geben wird, bspw. die Änderung von Prüfungsleistungen hin zu Multiple-Choice-Klausuren, die von Computern ausgewertet werden können

Was wurde bis jetzt getan?

  • seit Juni 2020 mehrere Kundgebungen in Leipzig, u. a. als Fahrradprotest
  • zentrale Kundgebung vor dem sächsischen Landtag und aktuelle Debatte im Landtag am 15. Juli 2020
  • Besetzung des Rektorats seit 29. Juli, vorläufige Unterbrechung der Besetzung seit 31. Juli
  • diverse Diskussionen und Anfragen im akademischen Senat der Universität und im Sächsischen Landtag zur Thematik
  • Beginn einer nachhaltigen Vernetzung von Dozent*innen und Studierenden
  • mehrere offene Briefe von verschiedenen Professor*innen,­ Institutsleitungen, Fachschaftsräten und Mitarbeiter*innenvertretungen, ein Überblick ist hier zu finden: https://www.kss-sachsen.de/Presse_Zukunftsvertrag_Lehrerinnenbildung
 

Felix Fink
Universität Leipzig, Referent für Lehramt des Student*innen-Rates

Anmerkungen:
[1]  Siehe Infobox zum ‚Lehrdeputat‘
Das Lehrdeputat beschreibt die Anzahl an Lehrstunden, welche eine an der Universität angestellte Person pro Woche unterrichten muss. Im Wesentlichen gibt es drei Kategorien von Unimitarbeiter*innen: Professor*innen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und Lehrkräfte für besondere Aufgaben (LfbAs). Professor*innen lehren sechs Semesterwochenstunden, unbefristete wissenschaftliche Mitarbeiter*innen acht Semesterwochenstunden und Lehrkräfte für besondere Aufgaben bis in diesem Jahr 16 und ab kommenden Jahr 20 Semesterwochenstunden. Das Land Sachsen als Gesetzgeber sieht eigentlich vor, dass die LfbAs mit ihren 16/20 Semesterwochenstunden Lehre nur für solche Lehrveranstaltungen eingesetzt werden dürfen, in welchen keine umfangreiche Weiterbildung bzw. die Bezugnahme auf einen wissenschaftlichen Diskurs notwendig ist – bspw. Sportkurse. Im Lehramt stellen diese LfbAs jedoch mehr als 50 Prozent der Mitarbeiter*innen und decken aufgrund ihres riesigen Lehrdeputats ca. 80 % aller Lehrveranstaltungen ab.

[2] Vorbilder gäbe es hier genug. Das Hochschulsystem in Deutschland gilt weltweit als veraltet und enorm hierarchisch.

[3] Siehe Infobox zur ‚Gruppenparität‘.
Ein erster Schritt wäre die Einführung der sog. ‚Gruppenparität‘ in den Gremien der Universität – diese wird von den Studierenden und Dozierenden seit Langem gefordert. Die Gruppenparität bedeutet, dass jede Statusgruppe (Studierende, Dozierende, Professor*innen, u. U. Verwaltungsmitarbeiter*innen) zu gleichen Anteilen in den Gremien vertreten sind. Dadurch könnten die Professor*innen, welche sich oft in der Hoffnung auf spätere Vorteile hinter die Entscheidungen des Rektorats stellen, überstimmt werden. Aktuell haben die Professor*innen in fast allen Gremien 50 % + 1 Sitz, sie können also niemals überstimmt werden.

[4] Der ‚Freie Zusammenschluss von Student*innenschaften‘ (fzs) als Dachverband der Studierendenvertretungen Deutschlands fasst die Frage der Hochschulautonomie gut zusammen:  https://www.fzs.de/autonomiebeduerfnisse-der-wissenschaft  Eigentlich hätten die Pädagogischen Fachkräfte im Unterricht (PfiU) ab 01.01.2020