Tausende Kinder ohne Schulplatz!
Schulpflicht – gilt sie in Sachsen noch?
Das gibt es trotz Schulpflicht, trotz des existierenden Rechtes auf schulische Bildung, trotz Bildungs- und Erziehungsauftrag gegenüber Kindern und Jugendlichen. Eigentlich sind das Errungenschaften eines modernen Staates, einer modernen Gesellschaft, die Bildung, unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft, allen hier lebenden Menschen zuteilwerden lässt.
Die Zahlen lassen aufmerken: Ende des letzten Schuljahres, im Juni 2024, waren es rund 2.300 Kinder und Jugendliche in Sachsen, die keinen Schulplatz zugewiesen bekommen hatten. Mehr als die Hälfte dieser Kinder und Jugendlichen warteten zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als sechs Monate auf einen Schulplatz. Trotz aller Beteuerungen der Landesregierung, die Situation schnellstmöglich zu verbessern, ergab eine aktuelle Landtagsanfrage der Sächsischen Linken, dass zum Stand 27.11.2024 noch immer 1963 Kinder und Jugendliche keinen Schulplatz hatten. [1]
Kinder und Jugendliche wohlgemerkt, deren Herkunftssprache nicht oder nicht ausschließlich Deutsch ist.
Nach Auffassung des sächsischen Bündnisses „Recht auf Schule für Alle in Sachsen“ ist der Migrationsstatus der betroffenen Kinder und Jugendlichen genau Teil des Problems. [2]
Geflüchtete Kinder und Jugendliche spüren die Folgen und Probleme des sächsischen Bildungssystems zuerst: Zu wenig Lehrkräfte, zu wenig Schulplätze in Wohnortnähe, zu wenig DaZ-Lehrkräfte, mangelnde Ausstattung. Die unmittelbaren Folgen für die Kinder und Jugendlichen zeigen sich in einem verzögerten deutschen Spracherwerb, verlangsamter sozialer Integration und das Gefühl des „Nichtgewolltseins“ äußert sich in der Zunahme von Ängsten und Depressionen. Die Folgen der verlorenen Schulzeit werden auf lange Sicht doppelt und dreifach teuer durch die Gesellschaft bezahlt werden müssen.
Dabei gäbe es Möglichkeiten und Ansätze, um schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen einen schnelleren Zugang zu Bildung und Zweitspracherwerb zu ermöglichen. Die Maßnahmen während der Covid-Pandemie haben gezeigt, dass kreative Übergangsstrukturen, wie zum Beispiel das zeitversetzte Beschulen am Vor-und Nachmittag, umsetzbar sind.
Aber ein Grundproblem bleibt: Es fehlen Lehrkräfte. Leider fehlte über Jahre der politische Wille, die Ressourcen und Expertise von Lehrkräften mit ausländischen Abschlüssen entsprechend zu nutzen. Erst mit den ukrainischen Lehrkräften wurden erstmalig Einstellungsverfahren und Anerkennungsverfahren von Kolleg*innen mit ausländischen Lehramtsabschlüssen beschleunigt und vereinfacht. Die gescheiterte Integration der syrischen Lehrkräfte in das sächsische Bildungssystem verdeutlicht das Dilemma. Langwierige und teure Anerkennungsverfahren, die meist in der Situation endeten, dass die Mehrheit dieser erfahrenen Kolleg*innen für das hiesige Schulsystem verlorenging und der Großteil derjenigen, die durchgehalten haben, nun maximal als Assistenzlehrkräfte in den Schulen arbeiten. Ihre Kernaufgabe ist dann aber eben nicht das selbständige Unterrichten. Diese Lehrkräfte fehlen und wären eine dringend notwendige Unterstützung, um den Anforderungen einer wachsenden Migrationsgesellschaft gerecht zu werden.
Eine zumindest übergangsweise Einbeziehung freier und privater Bildungsträger in die Beschulung von Kindern und Jugendlichen ohne zugewiesenen Schulplatz wäre ein anderer pragmatischer Anfang. Alles wäre besser, als monatelang allein zu Hause sitzen zu müssen.
Mit Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache trifft es eine vulnerable Gruppe ohne entscheidende gesellschaftliche Lobby und ohne genügend Ressourcen, ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. Nur wenige Eltern trauen sich, das Recht auf Beschulung, welches nach hiesiger Rechtslage in einem Zeitraum von höchstens drei Monaten nach Ankunft in Deutschland gewährleistet werden muss, für ihre Kinder tatsächlich juristisch einzufordern. Das ist nachvollziehbar, denn wer würde ernsthaft daran denken, die Behörden des Landes zu verklagen, auf dessen Wohlwollen man beim Aufenthaltsstatus angewiesen ist.
Ganz zu schweigen davon, dass man die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen und Netzwerke braucht, die sich mit Gesetzgebung und bürokratischen Abläufen des neuen Landes auskennen, um die eigenen Rechte wirksam einzufordern. Der Umstand, dass es überhaupt bis zum Sommer 2024 gedauert hat, dass die offenbar seit Jahren andauernde dramatische Situation fehlender Schulplätze öffentlich wurde, belegt das erfolgreiche Wirken von Ausgrenzungsmechanismen. Man stelle sich nur den Aufschrei vor, wenn Schüler*innen deutscher Herkunftssprache monatelang auf einen Schulplatz warten müssten und dies kurz vor einer entscheidenden sächsischen Landtagswahl medial bekannt würde. Auch die erwartbaren Reaktionen der politisch Verantwortlichen sind in diesem Fall vorhersagbar.
Stattdessen bleibt der notwendige Aufschrei aus. Daher betrachtet es das Bündnis „Recht auf Schule für Alle“ als zivilgesellschaftlichen Auftrag, die klaffende Lücke fehlender Lobbyarbeit zu schließen und politischen Druck aufzubauen, bis dieser Missstand behoben worden ist.
Die Bündnisarbeit versucht auf vielen Ebenen Unterstützung zu leisten. Politisch werden Gespräche mit den bildungspolitischen Sprecher*innen der demokratischen Landtagsparteien geführt, juristische Expertise eingeholt, die Vernetzungsarbeit von Unterstützer*innen vorangetrieben und Kampagnenmaterial für eine breitere Außenwirkung entwickelt. Das Bündnis hat für den 20.01.2025 zu einem Treffen geladen, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Die Zeit drängt.
Bei Interesse an Materialen meldet euch gern unter:
claudia.maass@gew-sachsen.de
[1] Drs. 8/529, Vorbereitungsklassen an den sächsischen Schulen, Antw. SMK 23.12.2024 Drs. 8/529
[2] Das Bündnis hatte sich in Reaktion auf die zunehmende Anzahl schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher Anfang des Jahres 2024 gegründet. Es besteht aus einer Vielzahl von Initiativen, (Migrant*innen-)Organisationen und Einzelpersonen, die das Anliegen des Bündnisses unterstützen, etwa Vertreter*innen des Sächsischen Flüchtlingsrates, des Kinderschutzbundes Sachsen (DKSB), des Bündnisses gegen Rassismus Sachsen und des Ausländerrates Dresden. Die GEW Sachsen ist aktiver Teil des Bündnisses. Am 6. Juni 2024 wandte sich das Bündnis mit einem offenen Brief an MP Kretzschmer und KM Piwarz
Offener Brief an MP Kretschmer und KM vom 6. Juni 2024: https://www.gew-sachsen.de/schulefueralle