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Inklusion

Schlaufuchs oder Leisefuchs?

2021 hat das Kultusministerium vier Berichte zum Stand der Inklusion in Sachsen vorgelegt. Die Leipziger Messe hat eins, McDonald hat eins, Linux hat eins und Haribo auch. Und Sachsen hat auch eins. Für die Inklusion. Den Fuchs. Denn schließlich sind Maskottchen die Basis für alle erfolgreichen Motivations- und Werbekampagnen. Und eine solche Kampagne hat die Inklusion in Sachsen tatsächlich nötig. Das wird in den Evaluationen deutlich, die das Kultusministerium im letzten Jahr zum Thema Inklusion vorgelegt hat.

2021 wurde nicht nur das Programm Inklusionsassistenz nach fünf Jahren evaluiert, auch die sogenannte Pilotphase zur Inklusion an den Grundschulen wurde abgeschlossen, ein Zwischenbericht zum Aufbau der Kooperationsverbünde wurde vorgelegt und vor allem musste das Sächsische Staatsministerium für Kultus (SMK) dem Sächsischen Landtag einen umfassenden Bericht zum Stand der Inklusion an Schulen und Kitas vorlegen. Das war 2017 mit der Novellierung des Schulgesetzes beschlossen worden. Einige Ergebnisse des Berichtes sollen nachfolgend vorgestellt und eingeordnet werden.

Zunächst zu den Inklusionsfakten: Der Anteil der Schüler*innen mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf an der Gesamtschülerzahl hat sich gegenüber dem Schuljahr 2015/16 nicht verändert. Er beträgt nach Angaben des SMK weiterhin 7,8 % und liegt damit etwa im bundesweiten Durchschnitt (7,6 im Schuljahr 2019/20). Da die Schülerzahlen seit 2015 jedoch von 351.700 auf 385.122 angestiegen sind, gab es im Schuljahr 2021/22 auch knapp 3.000 Förderschüler*innen mehr.

2021 waren es insgesamt 30.196 Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf. Von diesen werden aktuell 31,7 % inklusiv beschult. Das ist eine Steigerung um 5 % gegenüber 2015. Der Bundesdurchschnitt der inklusiven Beschulung liegt allerdings bei 43,9 % im Schuljahr 2019/20.

Sechs Siebtel der Lehrkräfte fühlten sich 2018 nicht auf die Inklusion vorbereitet

Bereits im Januar 2018 hatte das SMK an den Schulen eine Befragung zum Thema Inklusion durchgeführt, deren Ergebnisse jetzt mit veröffentlicht wurden. Die Erhebung war durchgeführt worden, um vor dem Start der „Kampagne zur Akzeptanzerweiterung gegenüber der Inklusion“ ein allgemeines Stimmungsbild zu erhalten. Tatsächlich nahmen jedoch nur so wenige Lehrkräfte und Pädagog*innen an der Befragung teil, dass diese nicht repräsentativ war.

Die Ergebnisse sind zudem ernüchternd gewesen: Sechs Siebtel der befragten Lehrkräfte haben angegeben, dass sie sich nicht gut vorbereitet fühlen und dass sie keine oder nicht ausreichende Kompetenzen in Bezug auf inklusiven Unterricht verfügen. Meistgenanntes Argument gegen die Einführung der Inklusion war der Mangel an Fachpersonal an den Schulen. Zudem befürchteten die Befragten eine Überforderung durch eine aufgrund der Inklusion verstärkten heterogenen Zusammensetzung der Klassen. Eine Wiederholung der Befragung ist noch nicht geplant.

Neuer Podcast: Nur die Perspektive der Lehrkräfte fehlt noch

Es wäre ungerecht, die Akzeptanzkampagne auf die Einführung des Fuchses als Maskottchen für die Inklusion in Sachsen zu reduzieren. Es wird die Homepage

www.inklusion.bildung.sachsen.de

aufgebaut, die neben Information für Eltern, Lehrkräfte und Schulleitung auch Praxisbeispiele gelingender schulischer Inklusion verspricht. Zu finden ist auf der Seite bereits eine übersichtlich aufgearbeitete ‚virtuelle Materialbox‘ für die individuelle und präventive Förderung von Schüler*innen mit einem Förderbedarf im Bereich Lernen an Grundschulen. Seit August 2020 gibt es auch einen Podcast des Kultusministeriums zum Thema der schulischen Inklusion in Sachsen mit bisher acht Folgen. Dabei werden verschiedene Perspektiven von Beteiligten und Betroffenen eingenommen. Nur die Perspektive der Lehrkräfte fehlt bisher noch. Auf dem in der Öffentlichkeit aufgrund seiner Aktualität sehr gut wahrgenommenen SMK-Blog (

www.bildung.sachsen.de/blog/

) wird die Werbekampagne des Kultusministeriums für die Inklusion noch nicht so deutlich. Nur 11 der insgesamt 359 Beiträge auf dem SMKBlog beschäftigen sich aktuell mit dem Thema Inklusion. Der Fuchs ist hier noch scheu und leise.

Am Ende des letzten Schuljahres gab es an 235 Schulen Inklusionsassisten*innen, die seit 2017 über den Europäischen Sozialfond (ESF) finanziert wurden. Die Förderung lief am 31. Juli 2021 aus. Das Programm wurde daher zunächst bis 2023 in die Landesfinanzierung überführt. Danach soll über das Programm erneut entschieden werden, wenn Bedarf weiter vorhanden ist und die Haushaltsmittel dies zulassen.

Auf GEW-Fortbildungsveranstaltungen wurde berichtet, dass sich anfänglich Kollegien an Grund- und Oberschulen dagegen gesträubt hätten, dass Inklusionsassistent*innen an der Schule tätig werden sollen. Die Befürchtung sei gewesen, dass dann noch mehr Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ihre Kinder an die Schule schicken würden und dass so das Unterrichten aufgrund von Verhaltensproblemen immer schwieriger werden würde.

Auf eine Lehrkraft in Sachsen kommen knapp 0,02 Assistenzstellen

Die Evaluation der TU-Chemnitz des Programms Inklusionsassistenz hat dagegen ergeben, dass die Assistenzkräfte hauptsächlich präventiv mit Schüler*innen ohne diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf arbeiten würden.

Tatsächlich ist es aber so, dass, wenn die Assistent*innen mit Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf arbeiten, diese überwiegend den Förderschwerpunkt emotionale-soziale Entwicklung oder Förderschwerpunkt Lernen haben. Die Evaluation hat zudem ergeben, dass die Inklusionsassistent*innen nicht nur im Unterricht, in der Einzelförderung und in der Streitschlichtung die Regellehrkräfte unterstützen, sondern auch bei der Übernahme der Berichtstätigkeiten im Zusammenhang mit der Inklusion.

Zusätzlich zu den circa 240 Inklusionsassistent*innen unterstützen im aktuellen Schuljahr auch 230 Schulassistent*innen die circa 31.000 Lehrkräfte an öffentlichen Schulen. Großzügig gerundet und gerechnet kommen also auf eine Regellehrkraft knapp 0,02 Assistenzstellen.

Fast die Hälfte der Förderschullehrkräfte verfügt über keine sonderpädagogische Ausbildung

Im Jahr 2020 waren 3477 Lehrkräfte an Förderschulen tätig, davon hatten aber nur fast die Hälfte die benötigte sonderpädagogische Ausbildung. 1538 Kolleg*innen waren hier schulartfremd oder im Seiteneinstieg tätig. Besonders im ländlichen Raum gibt es Schulen, an denen nur noch eine (kleine) Minderheit der Kolleg*innen die entsprechende Qualifikation besitzt. Auch Schulleitungen werden hier zunehmend mit schulartfremden Kolleg* innen besetzt.

Zum Stichtag 15.10.2020 waren an den Förderschulen 219 Stellen im Grundbereich und 31 Stellen im (gekürzten) Ergänzungsbereich unbesetzt. Für die „Außer-Haus-Förderung“ der knapp 10.000 Schüler*innen mit festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf in den Regelschulen wären bei einer Zuweisung von 0,5 Stunden pro Schüler*in und Woche 200 Stellen von Förderschullehrkräften notwendig.

Das ist in etwa die Anzahl der Stellen, die unbesetzt geblieben sind. Im Schuljahr 2019/21 war der Unterrichtsausfall an den Förderschulen von 9 % im Vorjahr auf 10,7 % angestiegen. Im Vergleich dazu betrug der Ausfall an Gymnasien 4 % nach Angaben des SMK.

Anstieg des Ausfalls an Förderschulen von 9 % im Vorjahr auf 10,7 %

Angesichts des Fachkräftemangels an Förderschulen besteht für das SMK offenbar ein Ausweg aus der Inklusionskrise in der Reduzierung der Ansprüche auf eine sonderpädagogische Förderung. Die entscheidende Stellschraube ist hierfür das von den Regelschulen beziehungsweise den Eltern beantragte Feststellungsverfahren. Wenn es weniger Feststellungsverfahren gibt, dann gibt es weniger festgestellte sonderpädagogische Förderbedarfe.

Dieser Logik folgend sind SMK und LASUB übereingekommen, dass in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung keine Verfahren mehr ohne eine vorgeschaltete Beratung durch die Förderschulen eingeleitet werden können. Während seit 2013 in § 13 der Schulordnung für Förderschulen (SOFS) geregelt ist, dass eine Beratung auf Wunsch der Schule oder der Eltern erfolgen ‚kann‘, wurde seitens der Schulaufsicht intern festgelegt, dass eine Beratung verpflichtend stattfinden ‚muss‘.

Wartefristen von zwei bis drei Jahren bis zur Feststellung des sonderpädagogische Förderbedarfes

Die GEW-Fraktion im Lehrerhauptpersonalrat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Kolleg*innen an den Grundschulen in sozialen Brennpunkten kritisieren würden, dass diese Beratungen von den Förderschulen häufig aufgrund personeller Engpässe abgelehnt werden bzw. wiederholt um ein Jahr verschoben werden.

Dazu schreibt das SMK selbst im Bericht: „Eine gesonderte Ressource für die Beratung im Vorfeld des Verfahrens zu Feststellung eines spF kann bislang aufgrund der personellen Engpässe im Bereich der sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräfte nicht ausgereicht werden.“ (S.11) Hinzu kommen die personalbedingten Verzögerungen bei der Bearbeitung der Anträge. Auf diese Weise entstehen Wartefristen von zwei bis drei Jahren bis der sonderpädagogische Förderbedarf festgestellt wird. Das Kultusministerium bewertet den Effekt dieser Maßnahme positiv.

Die Anträge auf sonderpädagogische Förderung in diesen beiden sozialen Förderschwerpunkten konnte nach eigenen Aussagen um ein Drittel gesenkt werden. Einen Beitrag dazu leistet sicherlich auch die Erweiterung der Antragsformulare auf aktuell 15 Seiten.

Anstieg der Schulbegleiter*innen von 2015 bis 2019 um ein Drittel

Während der Anteil der Schüler*innen mit einem vom LASUB festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf an der Gesamtschülerzahl mit 7,8 % seit 2015 gleichgeblieben ist, stieg in Sachsen die Anzahl der gewährten Schulbegleiter*innen von 2015 bis 2019 um ein Drittel an. Die Schulbegleitung wird auf Antrag v. a. als Einzelfallhilfe für Kinder und Jugendliche mit akuter oder drohender seelischer Behinderung gewährt, wenn die schulischen Unterstützungssysteme nicht mehr greifen.

Die Kommunen als Kostenträger der Schulbegleitung kritisieren nach Aussage des SMK daher, dass sie die Defizite in der schulischen Inklusion in Sachsen ausgleichen müssten. An dieser Stelle sei vollständigkeitshalber erwähnt, dass nicht nur seitens der Förderschulen nahezu keine Kapazitäten bestehen, Schüler*innen und Lehrkräfte bei der Inklusion zu unterstützen.

Auch bei den Regelschulen selbst wurden die zugewiesenen Kapazitäten für die inklusive Förderung weiter eingekürzt. Zunächst bei den Grundschulen von 1,5 auf 1 h, bei Oberschulen von 2,5 auf 2 h und bei Gymnasien von 2,5 auf 2 h pro Schüler*in mit sonderpädagogischen Förderbedarf. Dann 2021/22 ein weiteres Mal: alle Schularten erhalten pauschal nur noch 0,5 Stunden (Regelschullehrkräfte) für die inklusive Beschulung zugewiesen, und zwar ausdrücklich nur, falls das Arbeitsvermögen an dem betreffenden Standort zusätzlich vorhanden ist.

In seinem Fazit bezeichnet das SMK als größte Herausforderung den dramatischen Mangel an Lehrkräften, die über sonderpädagogische Kompetenzen verfügen. Als Ausweg wird neben der weiteren Senkung der Förderquote durch die Optimierung der Feststellungsverfahren auch die Bündelung und ein effektiverer Einsatz der Ressourcen durch die Einführung von Schwerpunktschulen und Kooperationsverbünden genannt.

Verstärkte Fortbildungen aller Lehrkräfte zum pädagogischen Umgang mit Heterogenität und die Möglichkeit des lernzieldifferenten Unterrichtes an den nun möglichen Gemeinschaftsschulen, sollen außerdem dazu beitragen, dass das System der sächsischen Regelschulen im Vorfeld besser auf die individuellen Bedarfe von Kindern- und Jugendlichen reagiert und damit sonderpädagogische Förderbedarfe vor allem in den „großen“ Förderschwerpunkten ‚Lernen‘ und ‚sozial-emotionale Entwicklung‘ vermieden werden können.

Im Bericht des SMK an den sächsischen Landtag springen verschiedene unbeantwortete Fragen sofort ins Auge: Welche Abschlüsse und Kompetenzen erreichen die Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen in Sachsen und wie ordnen sich die Ergebnisse im Bundesvergleich ein? Wie sind die unterschiedlichen Förderbedarfe und auch die Förderressourcen sozialräumlich in Sachsen verteilt? Welche Alternativen zum Feststellungsverfahren gibt es, um Schulen und Kolleg*innen mit besonders heterogenen Klassen unbürokratisch bei der Diagnostik und Förderung zu unterstützen? Wo sind Schulen in Sachsen trotz der berichteten Hürden und Mängel mit der Inklusion erfolgreich gewesen?

Aber so viel ist schon klar: Um ein Schlauchfuchs in Sachen Inklusion zu werden hat Sachsen noch viel Luft nach oben. Eine Langfassung des Artikels mit einer ausführlichen Einordnung sowie mit den Evaluationsergebnissen zur Pilotphase an Grundschulen und zum Aufbau der Kooperationsverbünde findet sich auf: www.gew-sachsen.de.
 

Sabine Mehnert LHPR, FG Förderschulen
Juri Haas LHPR, FG Grundschulen
 

Quellen:
Sächsisches Staatsministerium für Kultus (17.09.2021): Bericht Umsetzung Inklusion. Übersendung an den Sächsischen Landtag gemäß § 64 Abs. 10 SächsSchulG, Drs 7/7714.
https://saxsvs.de/index.php/Handreichung_2._Stichtag_f%C3%BCr_Schulleitungen (Planungsansatz)
www.schule.sachsen.de/unterrichtsausfall-6878.html
www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/sonderpaedagogische-foerderung-an-schulen.html

Der Leisefuchs, Flüsterfuchs oder auch Lauschefuchs ist Handzeichen aus der Grundschulpädagogik, mit dem der Kopf eines Fuchses imitiert wird, um die Schüler*innen zum Schweigen und Zuhören aufzufordern.
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