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Lehrer*innenbildung

Paradoxe Demokratiepädagogik

Die Würde des Menschen ist unantastbar – Handreichungen zur Demokratiebildung für angehende Lehrer*innen beziehen sich regelmäßig auf den ersten Artikel des Grundgesetzes. Lehrer*innen werden zu Verteidiger*innen der Demokratie stilisiert und dazu aufgerufen, informiert und kritisch für das Grundgesetz einzutreten – nicht nur im Unterricht, sondern im Schulalltag, ob auf dem Flur, dem Schulhof oder beim Ausflug.

In Schulen – dem Spiegel der Gesellschaſt – treffen wir aber auf das exakte Gegenteil: Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Hintergrund der Eltern, die sich in konkreter Benachteiligung und Herabsetzung offenbart. Lehrer*innenbildung nimmt sich dieser Realität zwar zunehmend an, bleibt aber defizitär. Zugleich stoßen wir auch abseits von Schule, in unserem täglichen gesellschaſtlichen Miteinander, auf eine ebenso brutale Realität.

Die Würde des Menschen ist sehr antastbar, wie rassistische Übergriffe nach dem EM-Endspiel oder antisemitische Äußerungen deutscher Politiker belegen. Statt Politik für alle zumindest anzustreben, wird die Politik der Wenigen – denen, die schon längst alle Rechte und Chancen haben – zum Maßstab; die Konsequenzen tragen dann aber wieder alle – besonders aber verwundbare Gruppen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es zynisch, Demokratiebildung in der Lehrer*innenbildung befördern zu wollen. Der Zynismus kommt daher, dass individuelle Handlung in einem verkrusteten und undemokratischen System regelmäßig zum Scheitern verurteilt ist. Angehende Lehrer*innen werden durch den Aufruf, Demokratie als Lebensform und pädagogisches Handlungsfeld zu verankern, mit ihrer verdeckten Doppelfunktion konfrontiert. Einerseits sollen sie soziale Ungleichheit abbauen, Gleichheit zum Primat ihres Unterrichts erklären, individuelle Leistungen anerkennen und die Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen. Anderseits sind sie unweigerlich Teil der größten gesellschaſtlichen Selektionsmaschine, die darauf basiert, Ungleichheit zu erzeugen, um dann durch Zertifikatsvergabe zu selektieren.

Um mit dieser paradoxen Anforderung umzugehen, müssen wir auch Demokratiepädagogik paradox verstehen: als Bildungsprozess, der sich stets selbst unterläuſt. Auf individueller Ebene wird Demokratiepädagogik für Studierende, Lehrende und Schüler*innen zum Bildungsprozess im Medium der Demokratie. Hochschulen müssen ein Ort des Streits, der kritischen Auseinandersetzung und Aushandlung, der Selbstreflexion von Verwobenheit in diskriminierende Strukturen werden – man lernt an ihnen nicht einfach das »richtige« Wissen und „gutes“ Handeln. Das wäre zu einfach. Ohne diesen Gedanken ist Demokratie zwar etwas, das möglicherweise in reduzierter Form als Set an Verhaltensweisen vermittelt werden kann, aber blutleer bleibt.

Auf sozialer Ebene wird Demokratiepädagogik an Hochschulen Menschen dazu befähigen, gesellschaſtliche Strukturen in ihrer historischen Genese und in ihren Auswirkungen auf pädagogische Differenzierungsprozesse zu begreifen. Dies bietet angehenden Lehrer*innen die Chance zu erkennen, dass Schule nicht zwingend auf die althergebrachte Art als Selektionsmaschine verstanden werden muss, Schule neu und anders zu denken, als pädagogische Institution zu begreifen und dies gegen alle Widerstände zu vertreten – dann wird Demokratie in der Schule möglich.

Dazu braucht es aber mehr als Schulpädagogik, diagnostisches Wissen und Didaktik. Es braucht eine kritische Perspektive auf die Verstrickung pädagogischer Praxis und erziehungswissenschaſtlicher Forschung in die Konstruktion und Reproduktion diskriminierender Kategorien. Es braucht Kritische Erziehungswissenschaſt. Den Blick wieder auf das System Schule zu richten, Schule pädagogisch zu denken und Fallstricke der wohl wichtigsten Institution demokratischer Gesellschaſten zu erkennen und neue Gestaltungsmöglichkeiten zu erschließen, ist Aufgabe der Demokratiepädagogik.

Dieser Beitrag ist auch im 4. Kritischen Lehramtsportfolio (2021) erschienen, das sich kritisch mit dem Lehramtsstudium auseinandersetzt, Praktika und Schulalltag reflektiert sowie die Herausforderungen im Bildungsalltag beleuchtet:
www.gew-sachsen.de/klp

Sebastian Engelmann
PH Karlsruhe

Der Autor

Sebastian Engelmann ist Juniorprofessor für Allgemeine Erziehungswissenschaſt am Institut für Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaſt der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Wechselverhältnis von Politik und Pädagogik sowie Demokratiepädagogik.

Zum Weiterlesen:

Sebastian Engelmann: „Lebensformen des Demokratischen. Pädagogische Impulse“
Beltz Juventa,
Weinheim/Basel, 2021
ISBN: 978-3-7799-5673-0


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„MACHT – DEMOKRATIE – SCHULE: Ein pädagogischer Blick auf ein umkämpſtes Feld“

Vortrag und Diskussion mit Sebastian Engelmann

12. Januar 2021, 18:00 -20:00 Uhr Universität Leipzig, Campus Jahnallee, Seminarraum 124, Haus 3:

Egal ob als Herrschaſts-, Gesellschaſts oder Lebensform: Demokratie muss gelernt werden. Geht das aber in Schulen so einfach und kann man Demokratie mit Erziehung und Bildung „machen“? Diese und weitere Fragen werden im Vortrag aus pädagogischer Perspektive kritisch diskutiert um Demokratiepädagogik als individuelle, soziale und wissenschaſtliche Lernaufgabe zu skizzieren.

Aufgrund möglicher Änderungen durch die Pandemie-Situation bitte vor der Veranstaltung hier reinschauen:
www.gew-sachsen.de/jungegew