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Gesellschaftspolitik

Je suis Samuel

„Es gibt Tage, an denen spürt man das Schwanken der Welt; es gibt Tage, an denen einen das Grauen packt“ – das schrieb Heribert Prantl nach dem islamistischen Mord an unserem französischen Kollegen Samuel Paty. So ging es auch vielen von uns.

Grausam und öffentlich geköpft wegen eines Unterrichts, der für Meinungsfreiheit eintrat? Fälschlich denunziert von einer 13-jährigen Schülerin und Objekt einer Hetzjagd in den angeblich sozialen Medien? Bedrängt durch Beschwerden eines Schülervaters bei Schulbehörden und Schulleitung, der dann den Attentäter aufhetzte, für Geld identifiziert von Schülern der eigenen Schule? Und schließlich ermordet von einem jungen Muslim, der im Land der Aufklärung und Menschenrechte politischen Schutz suchte! An den Präsidenten dieses Landes, den „Anführer der Ungläubigen“, schickte der Attentäter im Netz dann noch eine mit dem Foto des Opfers unterlegte Nachricht: „Ich habe einen Ihrer Höllenhunde hingerichtet, der es wagte, Mohammed herabzusetzen.“

Darum allerdings war es Paty gar nicht gegangen, er hatte Respekt gezeigt vor religiösen Gefühlen, die Karikaturen als aktuellen Anlass zum Gespräch genommen über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen, über die Gesetze eines Staates, der sich grundsätzlich nicht in religiöse Angelegenheiten einmischt. Und so war seine Ermordung auch ein Anschlag auf die Aufgabe von Schule als eine der wenigen Plattformen, die der Gesellschaft noch geblieben sind, um solche Fragen nicht in Nischen und Blasen, sondern wirklich gemeinsam zu diskutieren, ein Anschlag auf das Bildungswesen, das der französische Bildungsminister „das Rückgrat der Republik“ nannte.

Der nach eigenem Bekunden faschistische Attentäter von Christchurch, der in einer Moschee 51 Menschen erschoss und ebenso viele verletzte, nannte als sein Ziel die Entfesselung eines Bürgerkriegs zwischen Migranten und „Weißen“. Islamistischer und faschistischer Terror beleben sich gegenseitig, fördern die Vertiefung einer gesellschaftlichen Spaltung und das Schüren von Hass, von dem der Terrorismus lebt und aus dem neue Gewalt entsteht.

Es fällt auf, dass die Mobilisierung durch den islamistischen Vater in den sozialen Netzwerken fatal dem ähnelt, was die AfD mit ihren Meldeplattformen (von der anderen Seite her) will – die Entfesselung eines (geistigen?) Bürgerkriegs. Die Äußerungen des damaligen AfD-Pressesprechers Lüth im Interview zeigen, dass diese Partei in ihrem Erfolg von der Eskalation abhängt und diese fördert. [1]

Daher kann „die Stigmatisierung von Muslimen, durch die bestimmte politische Kräfte das Land seit vielen Jahren in Mitleidenschaft ziehen wollen, nur schädliche Spaltungen verstärken und die Maschinen des Hasses befeuern“, wie die französische Bildungsgewerkschaft FSU warnt.

Bei den Gedenkminuten für die ermordeten Opfer von „Charlie Hebdo“ 2015 hatte es an 6.900 von 46.000 öffentlichen Schulen Störungen wie Pfiffe oder gar Zwischenrufe wie „die haben den Tod verdient“ gegeben. [2]
Dieses „Eskalationskontinuum“ (Heitmeyer), aus dem Terroristen ihre Legitimation schöpfen, gilt es zu durchbrechen. Es reicht, wie der Mord an Paty zeigt, von der direkten Aufforderung zur Tat über die verbale Hetze bis zu einem „Verständnis“, das Täter als Opfer entschuldigt und Opfer verantwortlich macht. Insofern darf der Kampf nicht gegen Muslime geführt werden, sondern um sie und mit ihnen, auch im Bildungswesen.

Schule kann nicht Gewalt verhindern. Aber sie kann dazu beitragen, dass sich Gefühle der Zurücksetzung nicht zu Hass verdichten. Sie kann dazu beitragen, dass Bildungsbenachteiligung von Migranten nicht eine Spaltung vertieft, die dann fundamentalistisch aufgeladen wird.

Diese Gefahr besteht auch bei uns. Es gibt bei manchen Jugendlichen mit Migrationsgeschichte eine verstärkte Suche nach Halt und Respekt, einen Rückzug in konservativ-islamisches Auftreten, das auch Distanzierung bedeutet und ansprechbar machen kann für Islamismus. Daraus kann auch Druck entstehen, Druck, sich dem anzupassen und Druck auf Lehrkräfte, Werte und Verhaltensweisen zu akzeptieren, die mit Grundrechten nicht vereinbar sind. Das aber wäre der falsche Weg. Die Erfahrungen mit rechten Jugendszenen in strukturschwachen Gebieten der neuen Bundesländer haben bei aller Unterschiedlichkeit überdeutlich gezeigt, wie schnell die Öffnung sozialer Räume zur indirekten Förderung rechter Strukturen und der Verweis auf Desorientierung und soziale Problemlagen zur Entschuldigung einer neonazistischen Formierung geraten kann, an deren Ende die NSU-Morde standen.

Wie immer reagierte die Politik erst nach der Katastrophe, kurzfristig und überstürzt. Wirksames pädagogisches Handeln, das Faschismus und Islamismus nicht akzeptiert und die Person trotzdem respektiert und so Dialog möglich macht, geht nur über die Entwicklung von pädagogischen Beziehungen. Hinzukommen müssen aber eine Professionalisierung und Stärkung der Lehrkräfte und Räume für diese Auseinandersetzung. Die Trennung von Religionsunterricht (mit christlichem Missionsanspruch) und Ethik (an der die islamischen Schüler*innen teilnehmen) ist sicher die schlechteste Lösung. Und ein Bildungssystem, das Konkurrenz fördert und nicht Solidarität, verfehlt seine zentrale Aufgabe: nämlich gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fundieren, das „Rückgrat der Gesellschaft“ zu stärken.

In ihrem Aufruf der zu den Solidaritätskundgebungen betont die französischen Bildungsgewerkschaft FSU (Federation Syndicate Unitary): „Die an der Bildung Beteiligten müssen bei ihrer täglichen Arbeit unterstützt werden, einen aufgeklärten kritischen Geist aufzubauen, der frei von Rachsucht und diffamierenden Anschuldigungen ist. Jeden Tag tragen Lehrer und nationales Bildungspersonal durch geduldiges Handeln zum Aufbau einer vereinten und brüderlichen Republik bei, die vielfältig und respektvoll, aufgeklärt und zu demokratischen Debatten fähig ist.“

Erhard Korn

[1] „Vor allem klingt das so, als ob es in deinem Interesse wäre, dass noch mehr Migranten kommen?“ Darauf Lüth: „Ja. Weil dann geht es der AfD besser. Wir können die nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal!“  Zeit online 28.9.2020

[2] Jean-Pierre Obin, Comment on a laissé l‘islamisme pénétrer l‘école (2020), dazu auch https://www.zeit.de/2020/44/islamismus-frankreich-bedrohung-meinungsfreiheit-schule-lehrplan-samuel-paty und
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143695.frankreich-lehrer-als-feinde.html