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Sozialindex für Schulen

„Es gibt auch auf dem Weißen Hirsch schlechte Schüler …“

Plädoyer für einen Sozialindex zur gerechten Ausstattung sächsischer Schulen

Wurden Vertreter*innen des Kultusministeriums von der GEW darauf angesprochen, dass Lehrkräfte in sozial benachteiligten Stadtvierteln besondere Schwierigkeiten haben, ihre Schüler*innen auf einen guten Schulabschluss vorzubereiten, lautete die Antwort sinngemäß, dass es ja auch im Villenviertel Weißer Hirsch in Dresden schlechte Schüler gebe. Im Grunde hätten doch alle Schulen in Sachsen vergleichbare Sorgen. Dass schlechte Schulleistungen in einem Zusammenhang mit dem Einkommen der Eltern und prekären Lebensverhältnissen stehen können, wurde zumindest infrage gestellt, wenn nicht sogar bestritten.

Diese Haltung sagt viel aus über die vergangene und aktuelle (CDU-)Bildungspolitik in Sachsen. Durch das Prinzip der Ressourcenausstattung mit der Gießkanne wurden und werden benachteiligte Standorte systematisch unterfinanziert. Die besonderen Probleme und Herausforderungen von Schulen mit schwieriger sozialer Ausgangslage werden ignoriert. Dabei verlässt man sich offenbar darauf, dass die negativen Ergebnisse der Schulen an sozialen Brennpunkten – in Bezug auf Ausfallstunden, Bildungsempfehlungen, erreichte Abschlüsse, Schulverweigerung etc. – im positiven Durchschnitt der PISA-Tests versteckt werden können. Statistische Auswertungen zum Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Bildungserfolg werden vom Ministerium beharrlich verweigert.

Der Dresdner Bildungsbürgermeister Hartmut Vorjohann hat die Folgen dieses Desinteresse des Kultusministeriums gegenüber den ungleichen Bildungschancen sächsischer Kinder und Jugendlicher nun problematisiert. Er hat Daten von Schulen, Stadtvierteln und des Gesundheitsamtes auswerten lassen – und diese machen deutlich, wie groß die soziale Schieflage im sächsischen Bildungssystem mittlerweile ist. Zu seinen Beweggründen äußerte er sich am 2. Juli 2018 in den Dresdner Neuesten Nachrichten: „Wir können es uns nicht mehr leisten, Jahr für Jahr Mädchen und Jungen ohne Abschluss aus der Schule zu entlassen. Wir stehen ja vor der Frage, wo die jungen Menschen eigentlich herkommen sollen, um die freien Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze zu besetzen.

Schulabschlüsse spiegeln soziale Spaltung in Dresden wider

Dass die Landeshauptstadt sich in den letzten Jahren wirtschaftlich sehr günstig entwickelt hat, ist bekannt. Die Arbeitslosigkeit zum Beispiel halbierte sich zwischen 2006 und 2017 von 12 auf 6 Prozent. Weniger bekannt ist, dass die Stadtviertel mit den günstigen Mieten von dieser positiven Entwicklung längst abgekoppelt sind. In Dresden sind das vor allem Gorbitz, Prohlis, Reick und Leuben. Hier liegt die Arbeitslosenquote nach wie vor bei 10 bis 15 Prozent. In der Studie des Bildungsbürgermeisters wurden die Dresdner Stadtviertel entsprechend der sozialen Belastung fünf Gruppen zugeordnet. In der Gruppe von Gorbitz und Prohlis beziehen circa 25 Prozent der Einwohner Leistungen nach SGB II (Harz IV). In der Gruppe mit der geringsten sozialen Belastung (z. B. Loschwitz, Blasewitz und Weixdorf) beziehen dagegen nur 2,3 Prozent der Einwohner*innen Sozialleistungen.

Die soziale Lage der Schüler*innen und ihrer Eltern bestimmt in Dresden erheblich die Chancen, mit einem erfolgreichen Abschluss die Schule zu verlassen. Während in Blasewitz oder Weixdorf nur ein bis zwei Prozent der Jugendlichen an der Schule scheitern, erreichen in Gorbitz oder Prohlis 15 bis 20 Prozent keinen Hauptschulabschluss. Im Dresdner Durchschnitt sind fünf Prozent der Schüler*innen betroffen. Auch die Zahlen in Bezug auf die Bildungsempfehlungen spiegeln diese Schieflage wider: Im Durchschnitt erhalten circa 60 Prozent der Grundschüler*innen eine Gymnasialempfehlung. In Gorbitz wird circa 30 Prozent, in Blasewitz oder Loschwitz circa 80 Prozent der Kinder empfohlen, den Bildungsweg auf dem Gymnasium fortzusetzen. Angesichts dieser Zahlen bedarf es ideologischer Scheuklappen, den engen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Bedingungen und Bildungserfolg weiter zu leugnen.

Sächsischer Lehrermangel trifft belastete Schulen stark

Aber was sagen die Daten zur sozialen Benachteiligung über die tägliche Arbeit der Lehrkräfte aus? Diese Zahlen bedeuten, dass ein Großteil der Schüler*innen einer Klasse wahrscheinlich keine Eltern hat, die abends vorlesen, die bei den Hausaufgaben helfen, die ihre Kinder zum Sport und Musikunterricht begleiten, die auf gesundes Essen achten und darauf, dass Computerspiele und Drogen nicht überhandnehmen. Diese Zahlen bedeuten zudem, dass viele Gespräche aufgrund von Sitzenbleiben und Schulverweigerung geführt, dass häufig Förderanträge und Gutachten ausgefüllt und dass zahlreiche Termine mit Sozialpädagog*innen, Schulpsycholog*innen und dem Jugendamt vereinbart werden müssen. Diese Zahlen bedeuten auch, dass diese ganzen Bemühungen der Lehrer*innen zu oft erfolglos sind, weil es einfach zu viele bedürftige Schüler*innen in einer Klasse waren, um deren Unterstützung und Förderung man sich kümmern musste. Erschwerend kommt hinzu, dass es genau die Grund- und Oberschulen in den sozialen Brennpunktvierteln sind, die als DaZ-Schulen die Verantwortung für die Integration der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen tragen. Und auch bei der Umsetzung der Inklusion in Sachsen sieht das Kultusministerium diese Schulen als Kompetenzzentren künftig wieder in der Pflicht.

Den Beteuerungen des Kultusministeriums, dass die Probleme und Herausforderungen an allen Schulen gleich sind, glauben deswegen weder die bildungsbewussten Eltern noch die Bewerber*innen für den Schuldienst. Bei der Wahl der künftigen Schule werden benachteiligte Standorte von ihnen gemieden, denn sie ahnen, unter welch prekären Bedingungen an Schulen mit schwieriger sozialer Ausgangslage gelernt und gelehrt werden muss. Dass die Entscheidung von Eltern und Lehrkräften gegen solche Schulen die Situation weiter zuspitzt, kann nicht ihnen vorgeworfen werden. Die von den Lehrkräften gemiedenen Schulen geraten jedoch immer weiter in eine negative Spirale: Die personelle Unterversorgung durch den sächsischen Lehrermangel zeigt sich nicht nur an den Grund- und Oberschulen auf dem Land, sondern verstärkt sich auch an den städtischen Brennpunktschulen. Die wohlsituierten Elternhäuser versuchen nun umso vehementer, ihre Kinder vor diesen nicht nur sozial belasteten, sondern nun auch personell unterversorgten Schulen zu bewahren.

Schüler*innen aus riskanten Verhältnissen sind doppelt benachteiligt

Wenn sich Stadtviertel und damit auch Schulstandorte in Bezug auf die soziale Lage immer weiter auseinanderentwickeln, spricht die Wissenschaft von Segregation. Die internationale Schulforschung beobachtet seit einigen Jahrzehnten, wie sehr sich diese Segregation auf den Bildungserfolg auswirkt. Diese Auswirkungen der sozio-ökonomischen Zusammensetzung von Lerngruppen werden Kompositionseffekte genannt. Ein starker Einfluss auf leistungsrelevante Schülermerkmale ist nachweisbar, so auf Lernmotivation, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Anstrengungsbereitschaft und Einstellungen zur Schule und zum Lernen. Wenn erfolgreiche, positive, gleichaltrige Vorbilder (Peers) an sogenannten Brennpunktschulen fehlen, führt das zu einer Verstärkung der Gefühle von Zweitklassigkeit, zu Perspektivlosigkeit und Resignation. In der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass Schüler*innen auch bei gleichen (sozialen und kognitiven) Voraussetzungen an sozial benachteiligten Schulen deutlich schlechtere schulische Leistungen erbringen. Kinder, die in riskanten Verhältnissen aufwachsen und zudem prekären Schulbedingungen ausgesetzt sind, sind somit doppelt benachteiligt.

Aufgrund dieser Erkenntnisse der Forschung wurde in den vergangenen Jahrzehnten in den westlichen Ländern versucht, der sozialen Segregation von Schulen entgegenzuwirken. Am bekanntesten sind die Versuche, Kinder aus reichen Stadtvierteln mit Bussen in arme Stadtviertel zu bringen und Kinder aus armen Stadtvierteln in reiche Stadtviertel. In den USA führte das sogenannte busing zu einem starken Anwachsen von christlichen Privatschulen, in welche die weißen Mittelschichtsfamilien flüchteten. In den 1980er Jahren ist in Westberlin ein Busing-Versuch am Widerstand der Eltern aus den wohlhabenden Stadtvierteln gescheitert. In Bezug auf die Segregation von Grundschulen gibt es bessere Erfahrungen mit wohngebietsübergreifenden, verbindlichen Schulbezirken. Studien zeigen allerdings, dass bildungsbewusste Eltern immer einen Weg finden, um eine mit sozialen Problemen überlastete und mit Lehrkräften unterversorgte Schule zu meiden.

Sozialindex erhöht Verteilungsgerechtigkeit

Es ist langfristig wünschenswert, dass eine soziale Wohnungsbaupolitik die Segregation von Schulen nicht weiter anwachsen lässt. Auf die schulische Segregation in Sachsen müssen kurz- und mittelfristig jedoch bildungspolitische Antworten gefunden werden. Eine wichtige Antwort ist die Forderung nach der Einführung einer Gemeinschaftsschule für längeres gemeinsames Lernen. Durch die Gemeinschaftsschule kann ein starker Segregationsfaktor des sächsischen Schulsystems, die frühe Selektion der Schüler*innen durch das Gymnasium, abgeschwächt und Chancengleichheit wirksam gestärkt werden. Aber auch der Erfolg von Gemeinschaftsschulen hängt davon ab, ob Schulen in sozial belasteten Stadtteilen durch zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen in die Lage versetzt werden, diese besonderen Herausforderungen zu bewältigen und Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen.

In mehreren Bundesländern wird die Zuweisung zusätzlicher personeller und finanzieller Ressourcen durch einen sogenannten Sozialindex gesteuert. Dieser soll „Aufschluss darüber geben, unter welchen Standortbedingungen und mit welcher Schülerklientel die einzelnen Schulen arbeiten. Dazu bündelt er Daten der Schul- und Sozialraumstatistik für möglichst kleine Räume und misst so die soziale Belastung an einer Schule und im direkten Schulumfeld“ (SVR-Policy Brief 2016, S. 15). Die Indikatoren ergeben sich vor allem aus amtlichen Sozialraumdaten (z. B. Arbeitslosenquote, Sozialhilfebezug, Einfamilienhäuser, Zuwandereranteil), der Schulstatistik (z. B. Sprachförderbedarf, Inklusion, Migration, Familiensprache), der Gesundheitsstatistik (z. B. Schuluntersuchungen), aber auch aus der Kriminalitätsstatistik oder aus Eltern- und Schülerbefragungen zur soziokulturellen Situation.

Ziel eines Sozialindexes für Schulen ist zum einen die Verbesserung der Verteilungsgerechtigkeit bei der Zuweisung von Ressourcen. In den meisten Bundesländern mit Sozialindex wird die Grundausstattung mit Lehrkräften entsprechend der ermittelten Belastung angehoben, um Klassengrößen zu reduzieren und Zweitlehrkräfte einsetzen zu können. Häufig werden zudem zusätzliche Stellen für die individuelle Sprachförderung zugewiesen. Indexabhängige finanzielle Mittel werden bereitgestellt für präventive Elternarbeit, kollektive Fortbildungen und pädagogische Projekte sowie Netzwerkarbeit mit Schulen in ähnlicher Lage. In Berlin werden außerdem Zulagen gezahlt, um dem zunehmenden Lehrkräftemangel an belasteten Schulen entgegenzuwirken. Zum anderen findet der Sozialindex Anwendung, um eine faire Auswertung bei der Erhebung von schulischen Leistungsdaten zu gewährleisten. Zu nennen sind hier Kompetenztests, Bildungsempfehlungen und Abschlussquoten.

Ungleiches auch ungleich behandeln

Wenn in Sachsen schulischer Erfolg nicht immer stärker an die soziale Herkunft gekoppelt sein soll, muss Ungleiches auch ungleich behandelt werden. Denn die ohnehin zu dünne Personaldecke an Sachsens Schulen darf nicht zuerst an den Schulen mit den schwierigsten Bedingungen fadenscheinig werden. Drei Forderungen für mehr Bildungsgerechtigkeit sollten wir in der GEW Sachsen in Zukunft deswegen gründlich diskutieren:

  1. Die Einführung eines schulscharfen Sozialindexes für einen fairen Vergleich von Schulen und zur gerechten Steuerung von Ressourcen.
  2. Die Zuweisung zusätzlicher Personalressourcen für die Senkung von Klassenfrequenzen, für individuelle Förderung und präventive Elternarbeit an sozial belastete Schulen.
  3. Die Bindung und Werbung von qualifizierten und besonders engagierten Lehrkräften für die Tätigkeit an „unbeliebten“ Schulstandorten.

Juri Haas
Referat „Antidiskriminierung, Migration und Internationales“

 

Literatur:

Gerd Möller/Gabriele Bellenberg: Ungleiches ungleich behandeln. Standortfaktoren berücksichtigen – Bildungsgerechtigkeit erhöhen – Bildungsarmut bekämpfen. Herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen, Essen 2017.

Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (Hrsg.): Ungleiches ungleich behandeln! Wege zu einer bedarfsorientierten Schulfinanzierung. Policy Brief des SVR-Forschungsbereichs 2016-1, Berlin 2016.

Landeshauptstadt Dresden. Geschäftsbereich Bildung und Jugend: Weiterentwicklung der frühkindlichen und schulischen Bildungsstrategie der Landeshauptstadt Dresden, 15.08.2018.