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Interview

Netzwerk für Demokratie und Courage

Interview mit Anne Gersch, Projektleiterin der Schulberatung im sächsischen Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC) - über die Arbeit der Courage-Werkstatt in Sachsen, die die Angebote des bundesweit tätigen „Netzwerks für Demokratie und Courage“ (NDC) umsetzen.

„Im Schulalltag bleibt selten Zeit, um einen Schritt zurückzutreten und Geschehnisse und Abläufe in Ruhe zu betrachten.“

Es wenden sich immer wieder Kolleg*innen an die GEW, die sich aktiv für Zivilcourage und Partizipation oder gegen Mobbing und Diskriminierung an ihrer Schule einsetzen wollen, aber bei der Schulleitung oder erfahrenen Kolleg*innen auf „Augenrollen“ oder sogar offene Ablehnung stoßen, wenn sie Initiativen oder Projekte vorschlagen. Welche Tipps kannst Du Lehrkräften geben, die Ihr Kollegium überzeugen möchten, aktiv zu werden?

Anne Gersch: Auch wenn es schön wäre, so gibt es die pauschale Lösung nicht. Man kann sich aber folgende Fragen stellen: Wen kann ich an Unterstützer*innen im Kollegium oder bei Eltern und Schüler*innen finden? Welche Beweggründe hat die Schulleitung oder die Kolleg*innen für ihre Bedenken? Kann ich durch einen Perspektivwechsel vielleicht neue Argumente gewinnen, um Hemmnisse abzubauen? Was könnten weitere Vorteile für das Kollegium sein – beispielsweise die Entlastung im Umgang mit Konflikten. Was sagt das sächsische Schulgesetz? Gibt es die Möglichkeit, dass die Koordinator*innen für politische Bildung in der persönlichen Präsentation beispielsweise bei einer Schulkonferenz Bedenken schmälern könnten? Wenn das idealisierte Großprojekt nicht realisierbar ist, gibt es vielleicht die Möglichkeit im ersten Schritt zu prüfen, wie der eigene Unterricht verändert werden kann? Der eigene Unterricht selbst kann eine enorme Strahlkraft entwickeln und wichtiger Impuls für den einzelnen Schüler sein.

Das Netzwerk Demokratie und Courage (NDC) ist vielen Lehrkräften bekannt für die Projekttage zu Themen wie Diskriminierung, Gerechtigkeit, Flucht und Geschlechterbilder. Warum bietet das NDC nun auch Beratung für Schulen an?
Aus unserer langjährigen Zusammenarbeit mit vielen verschiedenen Schulen in Sachsen wissen wir zum einen, dass es auch für Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen viele Fragen und Unsicherheiten im Umgang mit Diskriminierung, menschenverachtenden Einstellungen und explizit extrem rechten Schüler*innen gibt. Oftmals gibt es neben der schulinternen Fortbildung wenig Raum, um sich auszutauschen, Wissen zu aktualisieren, Kompetenzen zu erweitern oder auch Strategien zu entwickeln.

Juri Haas: Wie läuft eine Beratung ab? Können sich einzelne Lehrkräfte auch beraten lassen, wenn die Schulleitung oder Gesamtlehrerkonferenz nicht aufgeschlossen ist?

Ein Beratungs- oder Begleitprozess startet meist mit einem telefonischen oder persönlichen Kontakt bei dem die Situation vor Ort, ein Problem oder konkreter Bedarf und Suche nach Angeboten geschildert wird. Mit dem Erstgespräch werden Bedarfe und Möglichkeiten der Bearbeitung mit der Kontaktperson erörtert und nächste Schritte vereinbart. Diese sind jeweils individuell passend für Situation, Zielgruppe und Ressourcen und reichen von klassischen Bildungsangeboten für Lehrkräfte oder Schüler*innen, über Moderation von Arbeitsgruppen, kollegialer Fallberatung bis zu klassischer Einzelberatung. In das breite Verständnis der Beratung durch das NDC fallen ebenso weitere Formen der Unterstützungsleistung wie: Auskünfte und Lageeinschätzungen, Entwicklungen von Maßnahmen, Coaching, Koordination und die Vermittlung von weiteren Projektpartner*innen und Beratungsträger*innen, wie Polizei, Bildungsagentur, Opferberatung.

Im Herbst 2018 hat die AFD auch in Sachsen ein Internetportal ins Leben gerufen, auf dem Lehrkräfte gemeldet werden sollen, die ihre Schüler*innen ideologisch indoktrinieren würden. Daraufhin stellte der Kultusminister Piwarz (CDU) klar: „Aber sie [die Lehrkräfte] haben eine Pflicht zum demokratischen Diskurs. Sie dürfen politische Äußerungen von Parteien kritisch zerpflücken, historische Parallelen ziehen und sie in einen Kontext stellen. Politik gehört in den Unterricht“. Ist die Botschaft des Ministers Eurer Ansicht nach bei den Schulen angekommen? Wie geht Ihr damit um, wenn Lehrkräfte, die der AFD nahestehen, nun auch selbstbewusster auftreten?

Wir halten es für gewinnbringend, wenn sich das Kultusministerium zu Fragen politischer Bildung sowie pädagogischer Haltung in Bezug auf Diskriminierung und menschenverachtender Einstellungen positioniert. Genau diese Fragen bewegen viele Menschen an sächsischen Schulen. Das Handlungskonzept des Kultusministeriums „W wie Werte“ ist dabei ein wichtiges Signal. Mit der Umsetzung und dem Umgang mit den tagtäglichen Herausforderungen sieht sich zumeist die einzelne Person konfrontiert. Der Umgang mit diskriminierenden Vorfällen ist leider oft spontan. Es existieren vielfach kein Präventionskonzept und wenig abgestimmte Handlungskonzepte. Im Schulalltag bleibt selten Zeit, um einen Schritt zurückzutreten und Geschehnisse und Abläufe in Ruhe zu betrachten. Ohne Zweifel sind auch Lehrerkollegien ein Querschnitt der Gesellschaft und entsprechend Einstellungen verbreitet, die aktuell ebenso deutlich geäußert werden.

Das von Dir angesprochene Grundsatzpapier „W wie Werte“ wurde im Jahr 2017 vom Kultusministerium (SMK) veröffentlicht, um allen Verantwortlichen in der Schulaufsicht ein Konzept für demokratische Schulentwicklung an die Hand zu geben, um eine „nachhaltige Prävention gegenüber Gewalt und extremistischen Gefährdungen“ zu erreichen. Es wird u. a. gefordert, dass Schulleitungen zu demokratischer Schulkultur fortgebildet werden, dass bis zur Klasse 6 eine Klassenleiterstunde auf dem Stundenplan stehen soll und Lehrkräfte Unterstützung erhalten, um Beteiligungsverfahren in den Schulalltag zu verankern. Könnt Ihr schon Erfolge dieser Initiative an den Schulen erkennen? Wo wünscht Ihr Euch ggf. ein größeres Engagement von Ministerium und Schulaufsicht?
Es ist deutlich wahrnehmbar, dass das Kultusministerium Schritte unternimmt, um das Handlungskonzept in die Praxis zu übersetzen. Tatsächlich sind auch wir Teil der Umsetzung und können mit unserem Engagement-Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ein Mosaikstein in einer diskriminierungsbewussten Schulentwicklung sein. Als zivilgesellschaftlicher Träger der außerschulischen Bildungsarbeit begrüßen wir es zudem, dass seit diesem Jahr nun Koordinator*innen der politischen Bildungsarbeit in der LaSuB angestellt sind, die nach meinem Verständnis Informationen zu unterstützenden außerschulischen Angeboten bündeln und an Schulen vermitteln. Damit stellen sie eine wichtige Ressource dar. Für eine Beurteilung des Konzeptes fehlt uns als außerschulischer Bildungsträger jedoch der genaue Einblick und das können sicherlich Schulen weit besser beurteilen.

Als GEW kritisieren wir, dass es Schulen in Sachsen gibt, die in besonderer Weise soziale Herausforderungen zu bewältigen haben, ohne dafür personelle Unterstützung zu kommen. Diese Schule sind selten Gymnasien und häufig in Plattenbaugebieten gelegen. Die Eltern der Schüler*innen sind hier öfter arbeitslos und alleinerziehend, viele sind neu zugewandert. Kennt Ihr Schulen, die sich trotz dieser schwierigen Bedingungen aktiv für Demokratie und gegen Diskriminierung einsetzen?
Was ist deren Erfolgsgeheimnis?

In der Zusammenarbeit mit Schulen be­gegnen uns viele dieser Herausforderungen. Manches Mal kennen wir nur einen kleinen Ausschnitt davon. Dabei begegnen uns viele engagierte und mutige Pädagog*innen mit klaren humanistischen Positionen. Genau dies gilt es zu stärken. Entscheidend für eine demokratische Schulkultur, die Diskriminierungen und Rassismus erkennt und bearbeitet, ist zum einen die Schulleitung, die den Rahmen für eine offene Auseinandersetzung setzt und mit ihrer Haltung die Zusammenarbeit positiv prägt. Dazu gehört zum anderen, die aktive Auseinandersetzung des eigenen pädagogischen Selbstverständnisses, ein klares Schulkonzept, das sich für Minderheiten und Schutzbedürftige positioniert sowie niedrige Hierarchien und ein offenes Miteinander, gerade auch der Lehrkräfte mit den Schüler*innen, das an der Partizipation des Einzelnen interessiert ist.

Während 2017/18 von 30.000 Lehrkräften in Sachsen höchstens 300 einen ausländischen Lehramtsabschluss besaßen, hatten an den Oberschulen ca. 10 Prozent und an Gymnasien ca. 7 Prozent der Schüler*innen einen Migrationshintergrund. Als GEW unterstützen wir daher die Forderung, dass auch Bewerber*innen mit ausländischen Lehramtsabschlüssen bei den Bewerbungen für den sächsischen Schuldienst berücksichtigt werden. Welche Rolle spielt das Thema Migration in Eurer Beratung?
Tatsächlich begegnet uns diese Frage in der Begleitung von Lehrer*innen und Schüler*innen bislang sehr selten. Vor allem dann, wenn das Ausgangsthema der Anfrage die Begegnung und Zusammenführung von Geflüchteten bzw. DaZ-Klassen und biodeutschen Schüler*innen ist. Auffallend ist die Zuschreibung von Konflikten als auch die Erkenntnis, dass sächsische Schulkollegien in der Mehrheit sehr homogen erscheinen. Das zeigt sich auch in der Art und Weise der Auseinandersetzung mit Rassismus. Ich bin mir sicher, dass ein vielfältigeres Kollegium positive Auswirkungen auf Schüler*innen und Kollegium hätte. Es wäre in jeder Hinsicht zu begrüßen, wenn die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft auch an Schule im Gesamten sichtbarer wäre – nicht nur innerhalb der Schulklassen. Je heterogener eine Gruppe ist, desto sensibler ist man selbst für Minderheiten, sieht eher den Einzelnen in seinen Bedürfnissen statt den Vertreter einer Gruppe, stolpert man über eigene angenommene normative Vorstellungen. Ob das nun Schüler*innen oder Kolleg*innen mit körperlichen Einschränkungen, vielfältigen Lebens- und Familienkonzepten, Herkunft oder Bildungsweg sind.
Vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Juri Haas vom Referat Antidiskriminierung, Migration und Internationales (REFAMI).

Das Referat bringt GEW-Kolleg*innen zusammen, die sich an ihren Einrichtungen für gleichberechtigte Teilhabe und Weltoffenheit einsetzen. Die nächste Sitzung findet am 3. April 2020 in Chemnitz. Informationen unter:
refami.kontakt(at)gew-sachsen(dot)de


Das „Netzwerk für Demokratie und Courage“

Ziele: Der gemeinnützige Verein „Courage – Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit“ (kurz Courage-Werkstatt) bildet seit 1999 junge Menschen zwischen 16 und 27 Jahren als Multiplikator*innen für die politische Bildungsarbeit aus. Mit ihnen werden insbesondere demokratiefördernde und antirassistische Projekttage in Regel-, Förder-, Berufsschulen und Ausbildungsklassen umgesetzt. Die Courage-Werkstatt setzt in Sachsen die Angebote des bundesweit tätigen „Netzwerks für Demokratie und Courage“ (NDC) um.
Das Leitziel der Schulberatung ist es, Schulen und die dort aktiven Akteure in der Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages zu unterstützen, Schule als demokratischen Lernort zu gestalten und Hemmnisse abzubauen, die dem entgegenstehen. Schwerpunkt sind dabei die Prävention von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die Intervention bei akuten Vorkommnissen und die Stärkung eines demokratischen Miteinanders.
Zielgruppe: Alle Akteure im System Schule. Das heißt Schulleitungen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen, Angestellte des Schuljugendclubs, Schüler*innen, Jugendgruppen u. a. Das können Einzelpersonen oder Gruppen verschiedener Größe sein.
Angebote: Bildungs- und Beratungsangebote für den jeweiligen Schultyp mit Themenschwerpunkt der Auseinandersetzung und Prävention von Diskriminierung und menschenverachtenden Einstellungen. Weiterführende Informationen auf:
www.netzwerk-courage.de/sachsen
Arbeitsweise: Verschiedenste Formate der Bildungs- und Beratungsarbeit, zugeschnitten auf den individuellen Bedarf sowie das Engagement-Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.
Förderung: Demokratie-Zentrum Sachsen, durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Landesprogramm „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ (WOS)/Sächsisches Staatsministerium für Kultus/Aktion Mensch