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Schule

Mit dem FREI DAY Zukunft lernen und gestalten!

Margret Rasfeld, ehemalige Schulleiterin, Autorin, Mitbegründerin und derzeitige Geschäftsführerin des Netzwerks „Schule im Aufbruch“, fordert, dass Schulen an einem Tag in der Woche Kindern und Jugendlichen Freiräume geben, um Zukunft zu lernen und zu gestalten.

Foto: Shutterstock / GEW

Frau Rasfeld, während der Meteorologe Sven Plöger neulich meinte, dass es eigentlich ein Fach Klimawandel geben müsste, fordern Sie, dass in den Schulen ein Freiraum für den Umgang mit den zentralen gesellschaftlichen Zukunftsfragen im Stundenplan verankert wird. Warum ist es falsch, ein Fach für Nachhaltigkeitsthemen einzurichten?

Selbstverständlich müssen wir – der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel entsprechend – diesem Thema signifikante Bedeutung und Raum in der Schule geben. Bei der Etablierung eines Faches sehe ich jedoch die Gefahr, dass wir in alten Mustern gefangen bleiben: Unterricht – Arbeitsblätter – Hausaufgaben – Test – Ziffernoten, klassenbezogen und im Gleichschritt. Der Begriff Fach verführt geradezu zu solchen tradierten Vorstellungen. Bei der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sind jedoch Partizipation, Gestaltungskompetenz und Selbstwirksamkeit wesentliche Schlüsselelemente. Schule aber bremst Jugend aus – so eine Studie der Leuphana Universität (Michelsen et al.: Greenpeace Nachhaltigkeitsbarometer 2015). Viele Jugendliche sind nachhaltigkeitsaffin, aber desillusioniert. Es fehlt ihnen an Hoffnung (www.mdpi.com/2071-1050/11/3/893). Diese Haltung verändert sich, wenn junge Menschen spüren, dass sie selbst – zusammen mit anderen – etwas für eine lebenswerte Zukunft bewirken können und Selbstwirksamkeit erfahren. Dafür brauchen Schulen verbindlich Zeiten und Räume. Diese bietet der FREI DAY (www.frei-day.org).

Wie müssen wir uns den FREI DAY vorstellen?

Der FREI DAY ist ein freier Bildungsraum für Zukunftsthemen mit mindestens vier Stunden jede Woche und im Stundenplan verbindlich festgelegt. Die Themen kommen von den Kindern und Jugendlichen. Es geht um ihre Fragen, Forderungen und kreative Lösungen für eine lebenswerte nachhaltige Zukunft. Die jungen Menschen eignen sich selbständig Wissen an und nutzen dazu das Riesen­potenzial an Expertise rund um die Schule. Sie arbeiten in altersgemischten Interessen-Gruppen zusammen und haben ausreichend Zeit, ihre Ideen mutig und leidenschaftlich zu verfolgen und in die Welt zu bringen. Fehler und Scheitern sind ausdrücklich erlaubt. Es gibt keine Benotung. Die Ergebnisse und die erworbenen (Meta-)Kompetenzen werden in den Gruppen reflektiert, dokumentiert und der Schulgemeinde vorgestellt. Aus diesem gewonnenen Wissen erwachsen Ideen für das Handeln in Schule und Kommune. Die Schulen werden so zu Wirk-Stätten für weltverantwortliches Handeln. Lehrkräfte und andere Erwachsene unterstützen, ermutigen, begleiten.  

Können Sie Beispiele nennen?

Zum Beispiel sind Schüler*innen aktiv als Energiedetektive, etablieren Klimaräte, nehmen Teil am fifty/fifty Programm. Sie überzeugen ihre Stadtverwaltung davon, Schulen auf Ökostrom umzustellen oder organisieren eine Klima-Woche in ihrer Stadt. Sie sorgen für eine müllfreie Schule ohne Plastik und tragen das Thema in die Familien und in ihr Schulumfeld. Sie nehmen das eigene Verkehrsverhalten kritisch unter die Lupe und erreichen, dass fast die gesamte Schülerschaft auf „Elterntaxis“ verzichtet. Bäume für Klimagerechtigkeit werden gepflanzt. Andere unterstützen Grundschulkinder in prekären Lagen beim Lernen und übernehmen Lernpatenschaften für geflüchtete Kinder. Schüler*innen entdecken das Theater als Ort des öffentlichen Diskurses, etablieren dort Zukunfts-Salons und laden Menschen mit Botschaften oder 4-Future-Aktivist*innen ein.

Sie begründen ihre Vorstellung des FREI DAY mit dem Nationalen Aktionsplan (NAP) Bildung für nachhaltige Entwicklung, den die Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 beschlossen und dem die KMK zugestimmt hat.

Mit der AGENDA 2030 haben 2015 die Vereinten Nationen 17 „Sustainable Development Goals“ – die SDGs – identifiziert, die wesentlich sind, um unseren Planeten zu erhalten und ein friedliches, würdevolles Leben für alle ohne Armut zu sichern (https://www.bmz.de/de/themen/2030_agenda/). Der NAP leitet sich von der AGENDA 2030 und dem dazu entwickelten UNESCO Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung ab. Ziel des NAP, bezogen auf das Handlungsfeld Schule, ist beispielsweise die Verankerung von BNE in allen Curricula, Lehrplänen und Ausbildungsordnungen (https://www.bne-portal.de/de/nationaler-aktionsplan-1702.html). Vom Projekt in die Struktur zu kommen ist das Programm. BNE steht für eine Bildung, die alle Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigt und Lernende ermächtigt, sich selbst und ihre Gesellschaft zu verändern. Das ist Zukunftsbildung mit Höchstanspruch. Im NAP werden Aktions- und Freiräume für das selbstwirksame Handeln der Schüler*innen ausdrücklich gefordert. Mit dem FREI DAY bekommen diese Forderungen ein konkretes Format – sowohl pädagogisch konzeptionell als auch alltagsbezogen operativ. Der FREI DAY befördert die Schulentwicklung im Sinne eines Whole School Approach.

Wieviel davon ist in der Schulpraxis angekommen?

Ich bin in sehr vielen Schulen und auf vielen Tagungen unterwegs. Meine Erfahrung ist: BNE ist in unseren Schulen noch nicht in der Breite angekommen. Das belegen auch Studien. [1]
Viele haben noch nie von den SDGs, BNE oder dem NAP gehört. Sie lassen sich aber durch die große Vision inspirieren und zum Handeln ermutigen. BNE muss deshalb viel stärker in die Öffentlichkeit.

Ich frage mich, weshalb Digitalisierung eine so hohe öffentliche Aufmerksamkeit bekommt und im Vergleich dazu BNE marginal behandelt wird. Das gilt ebenso für die finanzielle Ausstattung. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, aber als nützliches Werkzeug für BNE einzusetzen. Ich beobachte, dass ministerielle Maßnahmen bisher eher auf klassische Unterrichtsmaterialien ausgerichtet sind. Echte Partizipation der Schüler*innen ist noch stark entwicklungsbedürftig. [2] Auch die UNESCO fordert eine kritische Reflexion darüber, dass BNE bisher vor allem als Thema behandelt wird und nicht als ein systemischer Ansatz für eine transformative Bildung.
Wir stecken fest in alten Mustern und Annahmen. Brücken vom Alten zum Neuen können hilfreich sein. Der FREI DAY ist eine solche Brücke. Der FREI DAY hat nicht nur enormes Partizipations-Potenzial, er hat auch das Potenzial BNE stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. „Schule im Aufbruch“ hat sich bis 2025 das Ziel gesetzt, 12.500 FREI DAY-Schulen zu ermutigen, zu befähigen und zu vernetzen. Es geht um ein Netzwerk, das nicht nur durch Fortbildungen und Materialien qualifiziert wird, sondern sich auch durch wachsende Expertise und Mut im Netzwerk selbst befähigt.

Wie sehen Sie Deutschland für das neu aufgelegte UNESCO Programm Education for Sustainable Development 2030, kurz ESD 2030, aufgestellt?

Lernen die Welt zu verändern in Experimentierräumen – das gibt uns ESD 2030 als Ziel vor. [3] Damit ist der Finger in die Schwäche des deutschen Schulsystems gelegt, das sich mit Partizipation, Vertrauen und Mut zur Veränderung sehr schwertut. Für die großen Herausforderungen, die vor uns liegen, brauchen wir jedoch kreative Musterbrüche. Dass unser Bildungssystem in der Covid-Krise so krass an alten Mustern festhält, wo Krisen doch Chancen für neues Denken und Handeln sind, zeigt, wie stark das System in den starren alten Mustern gefangen ist. Jetzt sollen die Jugendlichen verlorenen Stoff nachholen, damit er in Prüfungen abgetestet werden kann. Welcher Irr-Sinn angesichts der notwendigen Zukunftskompetenzen, die junge Menschen brauchen, und welche Ignoranz gegenüber den Verpflichtungen für BNE. Wir müssen JETZT Freiräume zum Zukunftshandeln aufmachen. Wir müssen uns JETZT aus alten Mustern befreien durch Freiräume für selbstwirksames Handeln der Kinder und Jugendlichen, für die Befähigung von Lehrer*innen und für die Vernetzung von Schulen mit den Expert*innen, die außerhalb der Schule aktiv sind. Der FREI DAY hilft uns, mutig loszulassen und in das Neue zu gehen.
 
Wie kommt Ihr neues Lernformat FREI DAY an?

Die Idee des FREI DAY trifft auf große Resonanz. Bei Schüler*innen, Pädagog*innen, Schulleiter*innen, Eltern. Endlich Raum und Zeit für die wichtigen Themen. Endlich müssen wir nicht mehr Ideen der Schüler*nnen unterdrücken, weil wir im Stoffplan weiterkommen müssen, freuen sich viele Lehrkräfte. Auch außerschulische Partner sind vom FREI DAY angetan, da sie sich bisher mit Angeboten an die engen Vorgaben der Schule angepasst haben und der FREI DAY nun auch für sie ganz neue Möglichkeiten der längerfristigen Projektbegleitung ermöglicht. In Niedersachsen ist der FREI DAY ein Modul in der BNE-Moderatoren-Ausbildung, mehrere Lehrerfortbildungsinstitute sind am FREI DAY interessiert. Schwieriger wird es dann bei der konkreten Implementierung an den Schulen. Wo kommen die Stunden her? Komme ich mit meinem Stoff durch, wenn ich was abgebe? Werden alle Schüler*innen Ideen haben? Fragen, die wichtig sind, denn es entstehen Grundsatzdiskussionen sowie das Hinterfragen von Annahmen und Haltungen. Der Austausch ist hilfreich. Wie macht ihr das? Wie seid ihr vorgegangen? 12 Schulen unterschiedlichster Schulformen, die sich zur FREI DAY Community zählen, haben trotz erschwerter Corona Bedingungen seit Beginn des Schuljahres 20/21 den FREI DAY parallel in mindestens drei Jahrgängen eingeführt.

Welche Rolle spielt BNE in dem Netzwerk „Schule im Aufbruch“?

BNE ist für „Schule im Aufbruch“ (SIA) das tragende Ethos. Von der Gründung an im Jahre 2012 basiert unser Leitbild auf einer Lernkultur der Potenzialentfaltung, orientiert an den vier Säulen der UNESCO: Lernen Wissen zu erwerben, lernen zusammenzuleben, lernen zu handeln, lernen zu sein (www.schule-im-aufbruch.de). Dazu haben wir zusammen mit Schulen vielfältige innovative Lernformate entwickelt und erprobt. Teilen und voneinander lernen ist die Haltung. SIA inspiriert durch Sinn, ermutigt durch Beispiele, vernetzt Aktive und befähigt Bildungspraktiker*innen zu neuen Haltungen und zur Entwicklung innovativer Lernsettings. SIA sucht die Zusammenarbeit mit den aktiven Betreibern des Wandels in der Gesellschaft und hat im Mai 2016 mit der Tagung „Global Goals Curriculum 2016“ einen wegweisenden Impuls für BNE gesetzt (http://www.ggcberlin.de). SIA ist von der UNESCO und dem Bundesbildungsministerium als Umsetzungspartner für den Nationalen Aktionsplan ausgezeichnet worden.
Mit dem Change School Summit ist 2020 in Köln ebenfalls ein Aufbruch zu transformativer Bildung hervorragend gelungen. Dort haben dreizehn Schulen verschiedener Schulformen aus NRW, die ESD 2030 zum Ausgangspunkt für ihre Schulentwicklung machen wollen, sich ausgetauscht und vernetzt. Ihre Ergebnisse und viele Informationen zum praktischen Handeln sind in dem 2021 veröffentlichten Buch „Schulen handeln in der Klimakrise“ nachzulesen. [4]

Wie ist das Verhältnis von Bildung für nachhaltige Entwicklung zu inklusiver Bildung?

Das Menschenrecht auf inklusive Bildung ist Wesenskern von BNE. Empathie, Solidarität und gleichberechtigte soziale Teilhabe sind Kernelemente von BNE. Das Zusammenleben lernen in der einen Welt ist in einer gespaltenen, hierarchisch gegliederten Schullandschaft nur schwer zu lernen. BNE bedeutet: Schule neu denken. Es geht um einen grundlegenden Kulturwandel vom EGO in die Kraft des Wir. Lernen muss sich substanziell und radikal (an die Wurzel gehend) verändern. Wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen, müssen wir lernen, zusammenzuleben: miteinander, verbunden und verbindend, achtsam und in Fürsorge.

Dr. Brigitte Schumann
ifenici(at)aol(dot)com

[1] https://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/weitere/institut-futur/Projekte/Dateien/Grund_-J__-Brock_-A__2018__BNE_in_Lehr-Lernsettings_Quantitative-Studie____Befragung_junger-Menschen.pdf

[2] https://www.bne-portal.de/de/zwischenbilanz-zum-nationalen-aktionsplan-bne-2434.html

[3] https://www.unesco.de/bildung/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung/unesco-programm-bne-2030

[4] https://www.germanwatch.org/de/19807