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„Þetta reddast“ – Das wird schon

Inspirationen und Irritationen im Umgang mit Vielfalt im isländischen Bildungssystem

Im Oktober 2021 fand eine einwöchige Exkursion der AG Inklusion der GEW Sachsen nach Island statt. Einblicke in Umsetzungsmöglichkeiten von Inklusion und deren Praxis.

Es lassen sich in der wissenschaftlichen Literatur vielfältige Bedingungen finden, die es für gelingende inklusionsorientierte Entwicklungsprozesse braucht: Von einer offenen und professionellen Schulleitung über geeignete didaktische Konzepte bis hin zu inklusiven Kulturen und anpassungsfähigen Unterstützungsstrukturen ließen sich verschiedenste Aspekte thematisieren. Es braucht jedoch darüber hinaus Inspirationen, Irritationen und Erfahrungen, um die eigenen tradierten Vorstellungen und Praktiken zu hinterfragen und mit Fokus auf den wertschätzenden Umgang mit Vielfalt in Bildungsräumen weiterzuentwickeln. Um solche anregenden Erfahrungen zu sammeln, organisierte die AG Inklusion der GEW Sachsen mit Unterstützung verschiedener Förderer ein Praxisprojekt mit dem Ziel eines internationalen Einblicks in das inklusionsorientierte Bildungssystem Islands. Konkret wurde dafür eine einwöchige Exkursion im Oktober 2021 in Island unternommen, die gewerkschaftlich engagierten Pädagog*innen Einblicke in konkrete Praxiserfahrungen und Umsetzungsmöglichkeiten inklusiver Bildung ermöglichte. Dafür fanden Besuche, Diskussionsrunden und Hospitationen in verschiedenen Bildungsinstitutionen vom elementaren bis hin zum tertiären Bildungsbereich statt. Darüber hinaus gab es verschiedene Gesprächsformate mit außerschulischen Bildungsakteur*innen und -expert*innen, wie beispielsweise Vertreter*innen der isländischen Lehrer*innengewerkschaft. Die Exkursionsgruppe bestand dabei aus pädagogischen Expert*innen unterschiedlicher Bildungsbereiche, die in ihrer Praxis inklusionsorientierte Prozesse mitgestalten, sodass die gewonnenen Erfahrungen in den pädagogischen Alltag in Sachsen einfließen können.

Wenngleich die Diskussion um Inklusion bzw. Integration in vielen Ländern auch bereits vor Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) im Jahr 2009 geführt worden ist, so hat sie sich dennoch seitdem merklich intensiviert. So bezeichnet die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften in einer Stellungnahme Inklusion als eine der drei maßgeblichen „Revolutionen im bundesdeutschen Bildungswesen“ (DGFE 2017: 1) – neben dem sogenannten ‚PISA-Schock‘ und der Einführung der Ganztagsschule. Die staatliche Umsetzung von Inklusion im Bildungsbereich, also der Gewährleistung eines „inclusive education system at all levels“ (UN 2006: 16), stellt Staaten vor große Herausforderungen.

Island ist prädestiniert für eine Lern- und Inspirationsexkursion, da hier der Gleichberechtigungsgedanke gesellschaftlich stark verankert ist: es existiert z.B. ein Ministerium für Gleichberechtigung, Männer und Frauen müssen gleich bezahlt werden, bereits 2006 erhielten gleichgeschlechtliche Paare gleiche Rechte wie konventionelle Paare, es gibt eine verpflichtende 40%-Einstellungsquote von Frauen in Führungspositionen und das Thema Gleichberechtigung ist per Gesetz im Lehrplan verankert. Die Stärkung dieser Prämisse hat Auswirkungen auf die Schulen (und alle weiteren Bildungsbereiche), da diese dem Ziel folgen, dass man sich „selbstverständlicher bemüht, niemanden zurückzulassen“ (Merz-Atalik 2014: 37) und somit einen der Kernaspekte inklusiver Pädagogik adressiert (vgl. Reich 2012). So setzt die isländische Regierung seit den 1970er Jahren z.B. auf die Gesamtschule als zentrale Schulform, um Chancengleichheit für alle Schüler*innen unabhängig ihrer sozialen Herkunft oder ihrer Fähigkeiten zu garantieren. Aber auch in den weiteren Bildungsbereichen lassen sich langjährige Entwicklungen und Projekte beobachten, die dem Gedanken der Chancengleichheit und einem menschenrechtsbasierten Zugang zu Inklusion entsprechen.

Frühe Bildung: Von Anfang an alle Kinder willkommen heißen und sich ihren Bedürfnissen anpassen

Kindertagesstätten werden in Island Playschools genannt und folgen grundsätzlich einem inklusiven Gedanken: Sie sind für alle Kinder offen, unabhängig von ihren körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, ihrer Kultur oder Religion. Es existieren landesweit keine Sondereinrichtungen oder Sondergruppen; alle Kinder sind in der Einrichtung willkommen, in der sie von ihren Eltern angemeldet werden. Im urbanen Raum Reykjavik haben sich drei Einrichtungen auf Kindern mit unterschiedlichen Unterstützungsschwerpunkten spezialisiert (z.B. Autismus-Spektrum, Hörbeeinträchtigungen oder körperliche Beeinträchtigungen). Aber auch hier lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam.

Jedes Kind soll nach seinen eigenen Bedürfnissen und in enger Zusammenarbeit mit den Eltern betreut werden. Die Vorschulen orientieren sich an einem nationalen Lehrplan. Darüber hinaus gibt es weitere spezifizierende Vorgaben der Gemeinde. So folgt beispielsweise die Hauptstadt Reykjavik Richtlinien, die mit dem kindorientierten Slogan „Let our dreams come true“ überschrieben sind (vgl. Reykjavik City Council 2019). Zusätzlich erstellt jede Playschool ihren eigenen Lehrplan, der die Hauptziele der jeweiligen Einrichtung aufzeigt. Zentrales Element des Zusammenseins ist dabei das Spiel. Die Tagesplanung ist so gestaltet, dass eine Mischung aus freien und organisierten Aktivitäten den Alltag prägen. Die Schwerpunkte liegen dabei auf kreativer Arbeit, dem Spielen im Freien (bei nahezu jedem Wetter, was in Island wirklich ungemütlich werden kann), der Zusammenarbeit mit den Eltern, Inklusion und multikultureller Erziehung. Die Größe der meist altershomogenen Gruppen ähnelt dabei sächsischen Kindertagesstätten (14-18 Kinder im Alter von 1-3 Jahren, 22-24 im Alter 3-6).

Besondere Bedürfnisse von einzelnen Kindern können jederzeit während des Aufenthalts in der Playschool identifiziert werden. Die meisten werden jedoch kurz nach ihrem Eintritt oder spätestens im Alter von zwei Jahren entdeckt. Diese Kinder erhalten dann die entsprechende Unterstützung aus einem speziellen Ressourcenfundus, der jeder Kindertagesstätte größenabhängig zur Verfügung steht.

Bei dem Besuch einer kommunalen Playschool in Akranes, einer kleinen Gemeinde mit 1500 Einwohner*innen nördlich von Reykjavik, erhalten wir einen Einblick in den Alltag solch einer Einrichtung. Was hier sofort ins Auge fällt, sind die modernen lichtdurchfluteten Räume, obwohl das Gebäude bereits 30 Jahre alt ist. Große Fenster verbinden die Räume miteinander und ermöglichen so ein ‚getrenntes Beisammensein‘. Die Schulleiterin erklärt, dass die Kinder selbstverständlich sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben und ggf. entsprechende zusätzliche Unterstützung erhalten. Drei der Kinder haben so z.B. rund um die Uhr eine persönliche Begleitung. Die Unterstützungsleistung wird dabei individuell am tatsächlichen Bedarf berechnet und nicht von einer Statusdiagnose pauschalisiert abgleitet. Die Einstellung der Pädagog*innen erklärt die Schulleiterin mit den folgenden Worten: „Unser Fokus besteht immer darauf, zu überlegen, was das Beste für jedes Kind ist und nicht darauf, was es nicht kann. Wir überlegen, was wir tun können“. Dabei scheint es sich um mehr als eine pädagogische Phrase zu handeln. In den altershomogenen Gruppen können wir den Kindern zugewandte Pädagog*innen beobachten, die die Kinder beim Spielen, Malen und Singen liebevoll unterstützen. Wir entdecken Tagesstrukturpläne mit Piktogrammen für Kinder, die in diesem Bereich Unterstützung benötigen – und diese Pläne sind auf deren Augenhöhe angebracht. In einem Raum treffen wir eine Pädagogin, die einen Fächer aus Symbolkärtchen an einer Kette um den Hals trägt, der dazu genutzt wird, dass sich ein Kind mit Down-Syndrom jederzeit mit seinen Bezugserzieherinnen schnell austauschen kann. Zusätzlich wird die Gebärdensprache genutzt – als Angebot für alle Kinder, nicht ausschließlich für ein ‚besonderes‘ Kind. In der Garderobe wundern wir uns über die Vornamen der Eltern unter dem Namen der Kinder, aber auch hier wurde inklusiv gedacht: Mit dieser kleinen Brücke können Eltern schneller in Kontakt kommen und z.B. Verabredungen vornehmen.

Die Playschool präsentiert sich für uns als ein Ort, der ausnahmslos alle Kinder willkommen heißt und geprägt von einer inklusiven Grundhaltung ist: Die Pädagog*innen sind bestrebt sich den Kindern anzupassen und nicht andersherum. Und die Wertschätzung, die die Kleinen erfahren, scheint auch die Zusammenarbeit im Kollegium zu prägen, denn die Leiterin versichert uns, dass hier nur die Besten arbeiten würden.

Schulische Bildung: Kein Rezept für eine Einheitsschule, sondern vielfältige Zugänge zu einem System für ALLE

Der gemeinsame Schulbesuch von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ist seit 1989 gesetzlich verankert (vgl. Biermann & Powell 2014: 687). Der Inselstaat hat zudem die UN-BRK im Jahr 2007 unterzeichnet und 2016 ratifiziert. Diese legislativen Steuerungsimpulse schlagen sich in den für inklusive Bildungsprozesse relevanten Statistiken nieder. So haben in Island wesentlich mehr Schüler*innen einen sonderpädagogischen Förderbedarf als in Deutschland (2010/11: IS: 24,3%; D: 5,5%; ebd.: 685), aber gleichzeitig besuchen signifikant weniger Kinder und Jugendliche eine Förderschule (2010/11: IS: 1,2%; D: 4,3%; ebd.). In dem gesamten Land existieren gegenwärtig nur noch zwei Sonderschulen, eine für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und eine weitere für den Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung – leider, wie die beiden zuständigen Referentinnen der Kommune Reykjavik betonen. Die aktuelle Diskussion kreist nun darum, wie sonderpädagogische Unterstützungssysteme weiter ausgebaut und angesichts der hohen Etikettierungsanteile so verändert werden können, um sich dem Ziel zu nähern, allen Schüler*innen gleiche Bildungschancen zu ermöglichen. Die Normalität ist dabei der wortortnahe Regelschulbesuch – die Notwendigkeit des Besuchs einer Förderschule bedarf aktuell einer rechtfertigenden und gut begründeten Erklärung (vgl. European Agency for Special Needs and Inclusive Education 2020). Die meisten Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden daher individuell oder in Kleingruppen differenziert innerhalb der Regelklasse gefördert. Nach der Überarbeitung des nationalen Curriculums im Jahr 1996 fokussiert Schule in Island zudem mehr auf die individuellen Bedürfnisse aller Lernenden, mit dem Ziel diese zu stärken und unabhängiger zu machen (Biermann/Powell 2014: 686). Der Vergleich zu Deutschland ist offensichtlich:

„Während in Deutschland der Trend zu Segregation mit der Sonderschule als häufigstem Lernort für Schülerinnen und Schüler mit SPF ungebrochen ist, nähert sich Island einem inklusiven System an, in welchem fast alle Kinder gemeinsam lernen und das, obwohl sehr viele Schülerinnen und Schüler offiziell als förderbedürftig wahrgenommen und klassifiziert werden“ (ebd.: 693)

Der fast vollständige Verzicht auf segregierende Organisationsformen bei gleichzeitiger Stärkung des bildungsbezogenen egalitären Charakters der Gesamtschule macht das isländische damit im europäischen Vergleich aus inklusiver Perspektive zu einem besonders spannenden Schulsystem.

Im Rahmen der Exkursion besuchen wir im schulischen Teil überwiegend Grundschulen in verschiedenen städtischen Regionen, welche in Island bis zur 10. Klasse verlaufen, bevor es für die Schüler*innen entweder an Sekundarschulen weitergeht. Wie bereits beschrieben, sind diese Schulen von einer hohen Vielfalt geprägt. Bei den Hospitationen wird deutlich, dass der Umgang mit Vielfalt sich über die Integration von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinaus auf verschiedene inklusive Momente und Praktiken bezieht, die ein ‚Willkommen heißen‘ ALLER symbolisieren und signalisieren. So werden z.B. Toiletten teils nicht bestimmten Geschlechtern zugeordnet. Weiterhin wird sprachliche Vielfalt in den schulischen Ablauf, in Gängen etc. konstruktiv aufgenommen und wertgeschätzt, z.B. durch Zeichnungen, in denen verschiedene Sprachen verwendet werden. Die Klassenräume der Schulen sind so aufgebaut (ob in neuen oder älteren Gebäuden), dass die Schüler*innen in unterschiedlichsten Konstellationen und Positionen lernen können. Es werden nahezu keine frontalen Unterrichtssettings beobachtet. Vielmehr entsteht der Eindruck in den meisten Schulen, dass diese zu einem Lebensraum für die Schüler*innen geworden sind. Eine umfassende digitale Ausstattung der Schulen (mit funktionierendem und schnellem WLAN), ermöglicht es den Schüler*innen in einem sehr individuellen Setting an verschiedenen Aspekten zu arbeiten.

Auch das isländische Schulsystem folgt einem nationalen Curriculum und verschiedenen Verordnungen, die jedoch im schulischen Alltag situationsabhängig im Sinne einer inklusionsorientierten Entwicklung angepasst werden. So setzt jede Schule eigene Schwerpunkte, die teils als sehr progressiv und inklusiv eingeschätzt werden können, an anderer Stelle jedoch auch unterschiedliche Irritationen hervorrufen (siehe unten). Eine Schule in Akranes setzt ihren Schwerpunkt z.B. auf die Partizipation der Schüler*innen, die in verschiedenen Projekten an Schulentwicklungsprozessen beteiligt werden, die über ein schlichtes Abfragen von einfachem Feedback weit hinausgingen. Eine weitere Schule in Keflavik arbeitet diesbezüglich auch gemeinsam mit den Schüler*innen an einer Auseinandersetzung mit Werten, die für die Schule maßgeblich sein sollen. Ein übergreifender Schwerpunkt der Schulen liegt auch auf dem Wohlbefinden und der Gesundheit der Lehrkräfte. Von der Gestaltung der Räume bis hin zu der Möglichkeit diese auch zum ‚Abschalten‘ zu nutzen, lassen sich viele Ansätze finden, die nur wenig Ressourcen benötigen. So berichtet eine der Lehrkräfte ganz kurz und prägnant bezogen auf den Schulalltag „It's fun, it's just fun!“, ein Satz, der an sächsischen Schulen derzeit wohl eher selten zu hören ist. Darüber hinaus berichtet uns Hafdís Guðjónsdóttir, Professorin für Heilpädagogik an der University of Iceland, dass isländische Schulen in Vergleichstest sicher nicht die besten bezüglich bestimmter Kompetenzen wären (2015 war Island in der Gesamtwertung auf Platz 35 und damit unter dem OECD-Durchschnitt), jedoch beim Wohlbefinden der Schüler*innen am oberen Ende rangieren (vgl. OECD 2017: 278). Dies lässt sich in den meisten Schulen eindrucksvoll wiederfinden, die von einer willkommen heißenden und angenehmen Kultur und Atmosphäre geprägt sind – für Schüler*innen und auch für Lehrkräfte.   

Universitäre Bildung: Hochschule als Ort der Vielfalt

Mit einem Blick auf internationale Entwicklungen ist festzustellen, dass sich auch der sogenannte tertiäre Bildungsbereich mit Konzepten diversitätssensibler Öffnung von Hochschulen beschäftigt (vgl. Allemann-Ghionda 2021) und sich diesbezüglich in der Praxis zunehmend mehr Beispiele finden lassen, u.a. auch hinsichtlich der  Öffnung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung oder Lernschwierigkeiten, „die es nun bisher von Hochschule exkludierten Personen erlaubt, an qualitativ hochwertiger Hochschulbildung teilzuhaben“ (Leonhardt, Staib & Klatt 2021: 14 nach O‘Brien 2019 et al.) Und da sich die Entwicklungen (insbesondere in Sachsen) hierzu noch eher am Anfang befinden (vgl. Leonhardt, Staib & Klatt 2021), lohnt sich im Rahmen der Exkursion ein Blick auf die Entwicklungen in Island. So gibt es an der University of Iceland einen Studiengang, welcher sich explizit an Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung richtet und mit deren aktuellen Studierenden ein Gespräch stattfindet. An der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der University of Iceland lernt inzwischen der siebte Jahrgang in dem seit 2007 existierenden zweijährigen Teilzeit-Studiengang. Geleitet von einem sozialen Verständnis von Behinderung und dem Recht auf Bildung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, studieren in jedem Jahrgang fünfzehn Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung mit dem Ziel, eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Für die Teilnehmer*innen gibt es dabei einige Veranstaltungen innerhalb der Studiengangsgruppe. Zum Großteil besuchen sie jedoch reguläre Veranstaltungen wie alle anderen Studierenden. Thematisch reichen die Veranstaltungen von Soziologie über Disability, Ethik hin zu weiteren pädagogischen Inhalten. Abgeschlossen wird der Studiengang mit einem finalen Projekt. Die Teilnehmer*innen betonen bei dem Austausch, dass die Zusammenarbeit mit den regulären Studierenden sehr wichtig für das inklusive universitäre Zusammenleben ist. Der Studiengang setzt dabei von Anfang an auf kollaborative Formen des Austauschs und barrierearmen Zugangs zu Methoden und Inhalten im Sinne des sogenannten Universal Designs for Learning. Zusätzlich erhalten die Teilnehmer*innen einen sogenannten ‚peer-to-peer-support‘, der ihnen dabei helfen soll die pädagogischen Ziele zu erreichen und gleichzeitig am universitären Leben zu partizipieren. Parallele Praktika und ein Netzwerk an außeruniversitären Partner*innen ermöglichen den Teilnehmer*innen Verbindungen zur Gemeinde und führen zu zukünftigen und im besten Fall nachhaltigen Anstellungen. Im Gespräch mit den Teilnehmer*innen zeigt sich beeindruckend, dass der bisherige inklusive Bildungsweg der Personen auch zu einem empowernden und selbstbestimmteren Zugang zur eigenen Situation und Biographie führen kann. So sehen die Personen nur wenige Barrieren in ihrem bisherigen Lebensweg und sagen, dass ihnen der inklusive Zugang zu (vor-)schulischer Bildung die Möglichkeit gegeben hat, überhaupt an einem solchen Programm teilzunehmen. Mit Blick auf die Zukunft zeigt sich auch der isländische Wille nicht ‚stehenzubleiben‘, sondern weitere Entwicklungen und Herausforderungen produktiv und innovativ anzugehen. So soll es ermöglicht werden, dass zukünftig noch mehr Teilnehmer*innen die Möglichkeit haben, einen solchen Studienplatz zu erhalten, und das Studienprogramm soll über die Erziehungswissenschaftliche Fakultät hinaus erweitert werden. Die verschiedenen Evaluationen des Programms zeigen jedoch schon jetzt deutlich, dass diese Öffnung für mehr Vielfalt zu einer veränderten und inklusionsorientierteren Kultur an Hochschule führen kann.

Irritierende Momente: Schule zwischen Inklusion und Standardisierung

Mit Inklusion in der Schule ist die Idee verbunden, Schüler*innen Lernen in individualisierten Settings auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau zu ermöglichen. Umso irritierender ist es, wenn wir ein isländisches Klassenzimmer betreten, in dem 14 Drittklässler*innen sitzen und gleichzeitig (!) mit hoher Geschwindigkeit einen Text vor sich hinmurmeln. Verursacht durch die unterschiedlichen Lesetempi der Kinder erfolgt dies asynchron, so dass eine Stimmung wie in einem tibetanischen Kloster entsteht. Unterbrochen wird dieser monotone Singsang je von einem elektronischen Piepen – ein Timer ist abgelaufen. Die Schüler*innen setzen eine Markierung im Text an die Stelle, an der sie gerade angekommen sind und setzen anschließend das Runterrasseln des Textes fort, während die Lehrperson den Timer erneut startet. Speed Reading, so wird erklärt, ist empirisch validiert und führt nachweislich zu einer erhöhten Lese-Geschwindigkeit. Hafdís Guðjónsdóttir bestätigt, dass dies durchaus funktioniert – nur leider wissen die Kinder am Ende nicht, was sie da in hoher Geschwindigkeit konsumiert haben. Sinnentnehmendes Lesen wird so nicht erlernt. Ob gar die Lust am Lesen geweckt wird oder Kinder auf ihrem aktuellen Lesestand adressiert werden können, darf bezweifelt werden.

In einer anderen Situation begegnen wir dem didaktischen Konzept der ‚direct instruction‘: Eine Lehrkraft lehrt eine vermeintlich leistungshomogene Kleinstgruppe in Frontalsituationen in ihrer ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ entlang eines festgelegten Schemas aus sieben Schritten. Was aus empirischer Sicht haltbar ist, weil Kinder mit dieser Methode tatsächlich nachweislich bessere kognitive Fortschritte, etwa mit höherem Lesetempo, erzielen (vgl. Hattie, Beywl & Zierer 2013: 242), wirft aber aus inklusiver Perspektive Fragen auf: Wie Studien zeigen, führt direct instruction z.B. zu mehr emotionalen Problemen (vgl. Schweinhart, Weikart & Larner 1986; Ryder, Sekulski & Silberg 2004). Es wird zudem bemängelt, dass Schüler*innen zu „wenig Raum zu Eigeninitiative, Wahlmöglichkeiten und selbstdefinierten Lernsituationen“ (Jürgens 2006: 27) hätten. Aufgrund seiner Starrheit und bei unausgewogener Nutzung könnte ‚direct instruction‘ schließlich einer kindorientierten – inklusiven – Pädagogik entgegenstehen.

Ansätze wie die hier skizzierten, die häufig aus den USA stammen und durch eine empirische Untermauerung eine hohe ‚Wirksamkeit‘ propagieren, sind aus einer inklusiven Perspektive kritisch zu hinterfragen: Sie orientierten sich nicht an den individuellen Fertigkeiten und Bedürfnissen der Kinder, sondern vielmehr an starrer und standardisierter Pädagogik, wie sie eigentlich in vielen westlichen Ländern bereits als überwunden gilt.

Wie weiter oben bereits beschrieben wurde, ist das isländische Schulsystem von seinen grundlegenden Strukturen her inklusiv angelegt. Doch die schulische Praxis hält durchaus auch separierende Momente bereit: So begegnet uns auch eine Schule, in der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bis zu 50% der wöchentlichen Stunden in einem gesonderten Raum mit einer Sonder-Lehrerin verbringen. Dies ist von der Bildungsadministration so nicht gewünscht, obliegt aber schließlich der Verantwortung der Einzelschule. Und so finden sich im inklusiven System Islands tradierte Unterrichtsformen, die einer „Zwei-Gruppen-Theorie“ (Hinz 2002) folgen und Kinder entlang von Diagnosen sozial und räumlich trennen. Was in Sachsen auf schulstruktureller Ebene zu finden ist, lässt sich auf Island also auch im Kleinen finden, wobei zu betonen ist, dass es sich hier eher um die Ausnahme als die Regel zu handeln scheint.

Die drei aus einer inklusiven Perspektive hier präsentierten irritierenden Beispiele zeigen, dass auch in Island kein perfektes System vorzufinden ist. Das ist nicht sonderlich überraschend, aber doch wichtig sich vor Augen zu führen, wenn sich über hiesige Bildungspolitik beklagt wird.

Fazit: Inklusion? „Þetta reddast“ – „Das wird schon!“

Bildung in Island wird von einer grundsätzlich inklusiven Einstellung vieler Beteiligter getragen. Diese Beobachtung beginnt bei der Bildungspolitik und reicht über die Bildungsadministration bis hin zu Schulleitungen und Lehrkräften. Dass Kinder und Jugendliche aufgrund bestimmter Labels nicht ‚aussortiert‘ und ‚wegdiagnostiziert‘ werden, ist breiter gesellschaftlicher Konsens, der seit den 1980er Jahren gewachsen ist und heute nicht mehr zur Disposition gestellt wird. Dies führt dazu, dass nicht mehr wie beispielsweise in Sachsen, über die Frage diskutiert werden muss, ob Inklusion eine ‚gute Idee‘ ist, sondern dass vielmehr Raum existiert, um die herausfordernde Frage der konkreten Realisierung zu bearbeiten. Dabei hat sich nicht der ‚eine isländische Weg‘ herausgebildet, vielmehr zeigt sich eine Reihe von Ansätzen im Bildungssystem der Atlantikinsel. Beim Ausloten des ‚richtigen Wegs‘ zur Inklusion folgen die Akteur*innen dem isländischen Motto „Þetta reddast“ (Das wird schon!) – sie gehen also Entwicklungen mit Mut und Zuversicht an und im Bewusstsein, dass auch bestehende Strukturen und Praktiken ‚über Bord‘ geworfen werden können und manchmal auch müssen.

Die aus dieser Haltung resultierenden Ergebnisse sind häufig positiv und selten auch negativ beeindruckend, in jedem Fall aber inspirierend für hiesige Entwicklungen. Eine Reflexion vor der Folie inklusionsorientierter Ansprüche erscheint zwingend, bevor z.B. didaktische Ansätze adaptiert werden können. Auch in Island findet sich trotz einer beachtlichen Ressourcenausstattung nicht der heilige Gral, sondern schlussendlich die (erneute und gleichzeitig alte) Erkenntnis, dass die Umsetzung von Inklusion im Bildungssystem zu vorderst von einer menschenrechtsbasierten Haltung und dem kindorientierten sowie wertschätzenden Handeln der Individuen getragen wird.

Nico Leonhardt & Robert Kruschel
AG Inklusion

Das Projekt wurde gefördert von: GEW Sachsen, Bildungs- und Förderungswerk der GEW im DGB e.V., Deutsch-Isländische Gesellschaft, Horbach & Universitätsgesellschaft Leipzig

Allemann-Ghionda, C. (2021): Diversität, Inklusion und Internationalisierung in der Hochschule: Eine komparative Perspektive. In: Köpfer, A.; Powell, J. J.W. & Zahnd, R. (Hrsg.): International Handbook of inclusive Education. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich, 474 – 498.

Biermann, J. & Powell, J.J.W. (2014): „Institutionelle Dimensionen inklusiver Schulbildung – Herausforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland, Island und Schweden im Vergleich“, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17/4, 679 – 700.

DGFE (2017): Inklusion: Bedeutung und Aufgabe für die Erziehungswissenschaft. Online unter: www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Stellungnahmen/2017.01_Inklusion_Stellungnahme.pdf (zugegriffen am 24.4.2020).

European Agency for Special Needs and Inclusive Education (2020): „Country information for Iceland - Systems of support and specialist provision“. Online unter www.european-agency.org/country-information/iceland/systems-of-support-and-specialist-provision (zugegriffen am 24.4.2020).

Hattie, J.; Beywl, W. & Zierer, K. (2013): Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Jürgens, E. (2006). Lebendiges Lernen in der Grundschule – Ideen und Praxisbausteine für einen schüleraktiven Unterricht. Weilheim/Basel: Beltz.

Leonhardt, N.; Staib, L. & Klatt, M. (2021): Umgang mit Vielfalt an der Universität Leipzig – Projekterfahrungen zu inklusionsorientierter Hochschulentwicklung. In: E&W 30/5, 14 – 16. Online unter: https://www.gew-sachsen.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/umgang-mit-vielfalt-an-der-universitaet-leipzig/ (zugegriffen am 12.05.2021).

Merz-Atalik, K. (2014): „Der Forschungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention, nationale und internationale Probleme und ausgewählte Erkenntnisse der Integrations-/lnklusionsforschung zur inklusiven Bildung“, in: Trumpa, S. u. a. (Hrsg.): Inklusive Bildung. Erkenntnisse und Konzepte aus Fachdidaktik und Sonderpädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Juventa, 24 – 46.

Hinz, A. (2002): Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 53, 354 – 361.

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Kontakt
Nico Leonhardt
Leiter des Referats Inklusive Bildung