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Schule

Der lange Weg einer ukrainischen Lehrerin ins sächsische Schulsystem

Viktoriia Matsuta wurde 1997 in Cherson in der Ukraine geboren. Von 2014 bis 2018 absolvierte sie an der Staat­lichen Universität Cherson das vierjährige Bachelorstudium „Sprachen und Weltliteratur“ und erwarb damit die ukrainische Berufsqualifikation als Lehrerin für Russisch und Englisch.

Schon während ihres Studiums sammelte sie erste Erfahrungen als Lehrerin. Anfang 2019 ging sie als Au-pair zu einer Familie nach Flöha und im Oktober 2019 begann sie an der TU Chemnitz mit dem Masterstudium „Anglistik / Amerikanistik“ mit den Schwerpunkten TESOL (Teaching of English to Speakers of Other Languages) und Literatur. Dieses Studium brach sie aufgrund ungünstiger Studienbedingungen in der Corona-Zeit nach dem 3. Semester ab. Im Februar 2020 stellte sie beim Landesamt für Schule und Bildung (LaSuB) den „Antrag auf Feststellung der Gleichwertigkeit von im Ausland erworbenen Nachweisen mit einer Befähigung für die Ausübung des Lehrerberufes im Freistaat Sachsen“. Im Frühjahr 2021 nahm sie am vierwöchigen „Orientierungskurs Schule“ und am dreimonatigen „Brückenkurs für migrierte Akademiker*innen in den Bereichen Soziale Arbeit, Pädagogik und Erziehung“ am Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der Evangelischen Hochschule Dresden teil. Dort lernten wir Viktoriia kennen. Als wir sie zu einem Gespräch über ihren beruflichen Weg einluden, sagte sie sofort zu. Wir führten das Gespräch am 20. Mai 2022 online in deutscher Sprache. Viktoria hätte auch auf Ukrainisch oder Russisch sprechen können oder auf Englisch, das sie wie Deutsch auf dem Niveau C1 beherrscht.

Viktoriia, wir interessieren uns für deine Berufsbiografie. Bitte erzähle uns von deiner beruflichen Vergangenheit und Gegenwart und wenn du magst, wirf auch einen Blick in deine Zukunft. Überlege gern kurz, wo du beginnen möchtest, und dann fängst du einfach an zu erzählen und wir hören dir zu.
Ich glaube, anfangen muss ich mit meiner Migration. 2019 bin ich als Au-pair nach Deutschland gekommen. Ich hatte Lehramt Englisch und Russisch studiert und immer davon geträumt, in einem englischsprachigen Land zu leben. Aber dann bekam ich die Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen, und ich habe gedacht, warum nicht? Und so habe ich angefangen, Deutsch zu lernen. Das war nicht schwer für mich. Ja, es gibt manchmal diese Tage, wenn du denkst, das ist doch sehr schwierig, aber meistens fällt es mir leicht.

Als meine Au-pair-Zeit und mein Deutsch-B1-Kurs zu Ende waren, habe ich mich entschieden, hier in Deutschland weiter zu studieren. Ich habe an der TU Chemnitz den Masterstudiengang Anglistik gefunden. Für mich war es logisch, dass ich nach meinem Bachelor-Abschluss jetzt einen Master machen muss und danach als Lehrerin in der Schule arbeiten darf. Ich wusste nicht, dass das Masterstudium und das Lehramtsstudium in Deutschland ganz verschieden sind. 

Ich habe dann versucht, als Lehrerin meinen Weg zu finden. Ich bin zur IBAS [1] in Chemnitz gegangen. Eine Mitarbeiterin hat mir meine Möglichkeiten erklärt. Eine wichtige Info war, dass ich meinen Abschluss anerkennen lassen muss. Ich habe sofort alle Dokumente gesammelt und Ende Februar 2020 den Antrag gestellt. Ja, und dann? Ich habe keine Rückmeldung vom LaSuB bekommen, auch keine Eingangsbestätigung. Ich habe angerufen, aber keiner hat mir meine Fragen beantwortet. Dann habe ich schriftlich nachgefragt. Anfang Dezember 2020 kam ein Brief: Ich soll Verständnis und Geduld haben. Das war sehr frustrierend für mich, ich bin unsicher geworden. Diese Zeit, wenn man warten muss, ist sehr schwierig, weil du nicht weißt, wie lange du warten musst und ob eine positive Antwort kommt. Du weißt nicht, ob du in Deutschland bleibst und hier Lehrerin sein darfst oder ob du zurück gehst nach Hause. Wenn du überhaupt zurück nach Hause gehen kannst, das können nicht alle. Du möchtest dich entscheiden, aber du kannst dich nicht entscheiden, weil du warten musst, bis das LaSuB antwortet.

Ich habe nach alternativen Wegen gesucht: Zum Beispiel habe ich mich als Seiteneinsteigerin beworben, aber das ging für mich auch nicht, weil ich im Studium zu viel Pädagogik hatte. Auch über eine Ausbildung oder Weiterbildung zur Erzieherin habe ich mich informiert. Die Mitarbeiterin einer Fachschule war sehr hilfsbereit. Aber sie hat mir mitgeteilt, dass ich erst anfangen kann, wenn ich einen LaSuB-Bescheid habe. Sie hat sogar beim LaSuB angerufen, um nach meinem Bescheid zu fragen. Daraufhin bekam ich vom LaSuB Anfang März 2021 die Bestätigung, dass meine Unterlagen vollständig vorliegen – bis auf eine fehlende Unterschrift auf einem Blatt. Das habe ich sofort nachgereicht.
Auch die Corona-Situation hat mich sehr belastet, weil ich immer mit jemandem reden möchte, mich treffen, Kaffee trinken, spazieren gehen. Und jetzt, was? Die ganze Zeit zu Hause, Online-Seminare und plötzlich fragst du dich, warum mache ich das hier so, was ist der Sinn? In so einer Nacht habe ich mich erinnert, dass mir die Frau von der IBAS von einem Kurs erzählt hatte, durch den man herausfinden kann, ob man den Weg als Lehrerin in Sachsen weiter versuchen will oder nicht. Ich habe das gegoogelt und gefunden, dass es den „Orientierungskurs Schule“ und den „Brückenkurs“ jetzt online gibt. Ich habe daran teilgenommen und war sehr froh, weil ich dort viele andere Menschen in einer ähnlichen Lage getroffen habe. Ich vergleiche mich immer mit anderen, wo sie sind und wo ich bin. Positiv für mich war, wenn man das als positiv bezeichnen kann, dass in den Kursen einige Leute waren, die schon seit fünf oder sieben Jahren in Deutschland waren und die immer noch da standen, wo ich stand. Da dachte ich: Cool, ich habe in zwei Jahren schon viel geschafft! Das hat mich ein bisschen gefreut. Im Kurs waren auch ältere Menschen, die sich beruflich weiterentwickeln wollten. 

Das hat mir Mut gegeben: Wenn sie weitermachen, dann kann ich auch nicht aufgeben! Nein, ich muss weitermachen!

Die Kurse haben mir dann irgendwie viele Wege frei gemacht. Ich habe danach immer in meinen Lebenslauf geschrieben, dass ich an diesen Kursen teilgenommen habe. Ich weiß nicht, ob das wirklich geholfen hat, aber für mich war es psychisch gut, ich habe mich nach den Kursen sicher gefühlt. Ich weiß jetzt, wie das System hier funktioniert. Vielleicht weiß ich noch nicht alles, aber ich habe einen Einblick bekommen und sehr viele wichtige Informationen.

Ende März 2021 – 13 Monate nach der Antragstellung – habe ich endlich den Bescheid vom LaSuB bekommen. Russisch wurde mir anerkannt, Englisch nicht. Sie haben geschrieben, dass ich einen Anpassungslehrgang machen darf. Der Anpassungslehrgang erstreckt sich auf die Bereiche, in denen meine Ausbildung aus Sicht des LaSuB Defizite aufweist: im fehlenden zweiten Fach und in der fehlenden Schulpraxis in Russisch und im zweiten Fach. Ich habe sofort meine Rückmeldung ans LaSuB abgeschickt, dass ich das so machen will.

Zu der Zeit war ich noch im „Brückenkurs“ und habe dort erfahren, dass Sachsen Schulassistent*innen sucht. Ich habe ganz viele Bewerbungen abgeschickt und drei Antworten bekommen, eine von einer Schule direkt bei mir. Die Schule brauchte eine Person, die Russisch oder Arabisch spricht. Ich war zum Vorstellungsgespräch und hätte dort anfangen können, aber eine Woche vorher hatte ich den Vertrag für den Anpassungslehrgang unterschrieben und deshalb konnte ich nicht Vollzeit arbeiten. In Teilzeit hätte ich dort nur als DaZ-Lehrerin anfangen können, aber ich bin ja keine DaZ-Lehrerin. Ich habe mir das damals nicht zugetraut.

Im Oktober 2021 habe ich meinen Anpassungslehrgang an der Uni Leipzig angefangen. Hier ist es ganz anders als im Masterstudiengang in Chemnitz. Dort waren wir eine Gruppe mit Studierenden aus verschiedenen Ländern. Im Lehramtsstudium in Leipzig sind fast nur deutsche Studierende. In Chemnitz war es so bunt, international. Hier bekomme ich dafür aber Einblick in das Leben von richtigen deutschen Studierenden. Ich lerne von ihnen wichtige Sachen, zum Beispiel, warum diskriminierungssensible Sprache wichtig ist. Ich versuche, den Gender Gap zu sprechen und zu schreiben, obwohl das für Leute mit Deutsch als Zweitsprache nicht so leicht ist. 

Inzwischen habe ich auch andere Menschen gefunden, die einen Anpassungslehrgang machen. Das hat mich sehr gefreut und wir sind jetzt so eine Community von Anpassungslehrgangsstudierenden aus verschiedenen Ländern. Ich bin jetzt im zweiten von vier Semestern und nächstes Jahr im Sommer bin ich fertig mit dem theoretischen Teil, hoffentlich! 
Ich will es unbedingt in der vom LaSuB vorgesehen Zeit schaffen, denn sonst dauert es noch länger, bis ich endlich als Lehrerin arbeiten darf, und es wird noch teurer. Der LaSuB-Bescheid hat 267,11 € gekostet. Ich bezahle die normale Semestergebühr, das sind etwa 300 €. Und noch eine extra Gebühr für den Anpassungslehrgang, 700 € pro Semester. Also etwa 1000 € pro Semester. Insgesamt wird es mehr als 4000 € kosten. Ich habe schon viel Geld bezahlt und Zeit und Kraft investiert und auch deswegen kann ich nicht aufgeben. Ich muss das bis zum Ende machen. Und ich will das bis zum Ende machen, weil ich hier in meinem Beruf arbeiten will.

Uns haben schon viele migrierte Lehrer*innen erzählt, wie herausfordernd die Zeit nach der Antragstellung ist. Was hat dir denn in der langen Wartezeit geholfen, an deinem Plan festzuhalten, in Deutschland als Lehrerin in einer staatlichen Schule zu arbeiten?
Auf jeden Fall meine Freunde und meine Familie, denn sie glauben an mich. Und der „Orientierungskurs Schule“ an der ehs, weil ich da Menschen getroffen habe, die die gleichen Probleme hatten. In meinem Kurs war Monika aus Polen, sie hatte den gleichen Stand wie ich. Ich merkte, dass ich nicht allein bin. Vorher fühlte ich mich ausgeschlossen. Du weißt nicht, ob es hier andere ausländische Lehrer*innen gibt und wie die ihren Weg finden. Du weißt nicht, wo du anfangen sollst. Ja, du kannst das googeln, aber das ist nur Theorie, praktisch muss man solche Leute treffen, muss sie fragen, wie war das bei dir, was hast du gemacht? Das hilft sehr. Und man muss seine Rechte kennen. Zum Beispiel, dass das LaSuB eigentlich innerhalb von drei Monaten den Bescheid erstellen muss. Aber in meinem Fall hat dieses Wissen nichts genützt.

Ich hoffe, dass nicht nochmal so eine Wartezeit kommt. Von anderen habe ich gehört, dass nach Abschluss des theoretischen Teils des Anpassungslehrgangs nicht sofort mit dem schulpraktischen Teil begonnen werden kann, weil es festgelegte Bewerbungstermine gibt und das LaSuB dann wieder Zeit zur Bearbeitung braucht, bis es mir eine Stelle für den schulpraktischen Teil anbietet. Ich hoffe, dass mir dadurch nicht noch mehr Zeit verloren geht.

Wir wünschen dir sehr, dass jetzt alles reibungslos verläuft. Im Sommer 2023 schließt du den theoretischen Teil des Anpassungslehrgangs ab. Dann kannst du dich zum 01.09.2023 für den schulpraktischen Teil bewerben, der dann hoffentlich im Februar 2024 beginnen kann. Wenn alles gut geht, bist du ein Jahr später damit fertig – fast genau fünf Jahre nach der Antragstellung – und darfst als Englisch- und Russisch­lehrerin an einer staatlichen Schule in Sachsen arbeiten. In der Ukraine hast du ja schon als Lehrerin gearbeitet. Möchtest du uns noch etwas über deinen beruflichen Weg vor der Migration erzählen?
Ich habe Lehramt studiert. Im zweiten Studienjahr haben mich Eltern gefragt, ob ich ihre Kinder in Englisch unterrichten kann. Ich habe also Bücher für Grundschulkinder ausgesucht. Auf der einen Seite fiel mir das Unterrichten leicht. Auf der anderen Seite aber auch nicht. Denn man muss ja die Sprache von Anfang an beibringen. Aber ich habe spielerisch unterrichtet mit Tanzen, Singen, Filmen... Nach einem Jahr hatte ich schon so viele Schüler*innen, dass ich manchen absagen musste. Jeder in dem kleinen Dorf, aus dem ich komme, wusste, dass ich Englischlehrerin bin. Und jeder wollte, dass die eigenen Kinder Englisch lernen und bessere Berufschancen haben in der Zukunft. 

Dann habe ich eine Stelle als Englisch­lehrerin in einer privaten Kita bekommen. Diese Kinder waren noch jünger, mit ihnen habe ich wichtige Erfahrungen gesammelt: Sie konnten noch nicht zählen, noch nicht schreiben. Da musste ich ganz einfache Sachen machen. Danach habe ich noch für ein halbes Jahr als Englischlehrerin in Kursen für Erwachsene gearbeitet. Das war dann schon in meinem letzten Studienjahr. Diese verschiedenen Tätigkeiten haben mir sehr geholfen, auf meinem beruflichen Weg weiter zu kommen und sicher zu werden. Direkt nach dem Studium dachte ich: Entweder ich mache ein Masterstudium oder ich gehe ins Ausland und mache da etwas und kann jederzeit zurück. 
Vom Studium an der TU Chemnitz und vom Anpassungslehrgang an der Uni Leipzig habe ich schon erzählt. Im Januar 2022 habe ich eine Stelle bekommen bei den solaris – Jugend- und Umweltwerkstätten in Chemnitz. Das war für mich wirklich ein sehr gutes Ereignis, weil ich die Möglichkeit bekam, weitere Erfahrungen in der Arbeit mit Schüler*innen und mit Gruppen zu sammeln. Viele Mitarbeitende haben gesagt, dass ich irgendwelche Kinderhormone habe, denn die Kinder lieben mich sehr. Ich habe dort auch viel über Bildung für nachhaltige Entwicklung gelernt. Ich hätte da gern weitergearbeitet, aber dann kam der Krieg …

Was hat sich durch den Krieg für dich beruflich verändert?
Ich wollte unbedingt helfen, ich musste etwas machen, was andere nicht können, also nicht nur Geld und Sachen sammeln! Ich spreche Ukrainisch, Russisch, Englisch, Deutsch, ich bin Lehrerin, ich kann in der Schule arbeiten. Ich hatte wegen meiner Bewerbung als Schulassistentin schon Kontakt zum Schulamt Chemnitz. Ich habe diese Frau im Schulamt angeschrieben und sie hat sich sehr gefreut. Sie hat mich gefragt: Können Sie in der nächsten Woche anfangen? Ich sagte: Ja, also ich kann, aber in Deutschland geht das nicht so schnell. Ich kann, aber können Sie?

Zum Glück hat mein Arbeitgeber bei solaris mich gut verstanden, ich durfte schnell kündigen. Und ich kann auch zurückkommen, hat er gesagt, wenn die Schule mich nicht mehr braucht. Anfang April habe ich mit der Arbeit in einer Grundschule in Chemnitz angefangen, mein Minijob-Vertrag geht bis zum 15.07.2022. Unsere Klasse wurde schnell größer, weil immer mehr geflüchtete Kinder ankamen. Jetzt sind es 22 Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren. Ich bin montags und freitags in der Klasse, an den anderen Tagen mache ich meinen Anpassungslehrgang in Leipzig. Meine Kollegin ist dienstags bis donnerstags in der Klasse. Sie ist eine ukrainische Musiklehrerin, die parallel noch online ihre ukrainischen Schüler*innen einer Oberschule in Charkiw unterrichtet. Sie besucht jetzt einen Deutschkurs für geflüchtete Lehrer*innen in Chemnitz.

Ich versuche, den Kindern Deutsch beizubringen, denn für die ukrainischen Kinder ist Deutsch jetzt wichtig. Sie brauchen die Sprache. Ich bin zwar keine DaZ-Lehrerin, aber den ukrainischen Kindern kann ich trotzdem Grundlagen beibringen. Am Anfang war es schwierig, denn wir hatten nur die Kinder, den Klassenraum und ein paar Hefte und bunte Stifte. Sonst kein Lernmaterial. Das musste ich mir selbst suchen, ja, ich hatte Lust, ich hatte Zeit, ich habe gern recherchiert, aber wenn du niemals Deutsch unterrichtet hast, dann weißt du auch nicht, wo du anfangen kannst zu suchen. Aber ich habe verschiedene gute Bücher und Übungshefte gefunden. 

Einmal sind die ukrainischen Kinder aus der DaZ-Klasse mit in meine Klasse gekommen, weil ihre Lehrerin krank war. Sie haben ihre Übungshefte mitgebracht und das waren genau die Hefte, die ich für meine Kinder ausgesucht hatte. Ich konnte mich mit keinem dazu beraten, ich musste selbst viele Materialien ansehen, ob sie gut sind, und schnell entscheiden. Und dann sehe ich auf einmal, dass die Kinder aus der DaZ-Klasse das gleiche Heft haben – da war ich sehr stolz, dass ich mich so gut entschieden hatte. Ich interessiere mich sehr für meine fachliche Entwicklung und das ist vielleicht nur eine kleine Sache, aber in diesem Moment merkte ich, dass ich mich entwickelt habe und kompetent bin. 

Bestimmt warst du in diesem Moment sehr stolz auf dich! Willst du uns noch mehr aus deinem Arbeitsalltag erzählen?
Die Arbeit macht mir Spaß und es macht auch den Kindern Spaß, wir verstehen einander. Die Eltern schreiben mir positives Feedback, wir sind im guten Kontakt. Die Altersmischung ist eine Herausforderung. Die Kinder in der 1. Klasse können noch nicht schreiben und die Kinder, die in der Ukraine in der 5. Klasse waren und nach dem deutschen Gesetz hier in der 4. Klasse sind, langweilen sich. Deswegen ist es ein bisschen schwer für alle, auch für mich als Lehrerin. Aber Übung macht den Meister. Ich übe und die Kinder üben mit mir, wir lernen alle etwas Neues.

Mit Kindern, die vor kurzem aus der Ukraine nach Deutschland fliehen mussten, muss man sehr vorsichtig sein. Ich habe zuerst gedacht, dass wir auch ein bisschen über die Ukraine sprechen können, über Geschichte und Literatur. Aber die Kinder wollen dann über ihre Erinnerungen reden. Zum Beispiel, wir haben meine Oma in der Ukraine gelassen. Mein Vater ist gestorben. Wir haben unseren Hund und unsere Katze zurückgelassen. Und du weißt nicht, was du sagen kannst, du kannst nicht nur sagen, es tut mir leid. Aber was kannst du sagen?

Auf der einen Seite ist es für die Kinder gut, wenn sie erzählen dürfen. Sie vermissen zum Beispiel ihre Haustiere, die in der Ukraine geblieben sind, und ihre Familien, aber sie verstehen nicht, was das bedeutet und wie schlimm das ist. Und da muss ich auch sehr aufpassen, weil jedes Wort schädlich sein kann. Ich muss genau nachdenken, was ich sage, weil Worte Erinnerungen auslösen können, und wenn einer spricht, dann sagt noch ein anderer was und die ganze Klasse will dann erzählen. Aber es ist nicht für alle Kinder gut, eine ganze Stunde lang zu hören, was die anderen Kinder erlebt haben. Sie brauchen auch Ablenkung, damit sie weiterleben können. Ja, ich glaube, sie brauchen ein ganz normales Leben, wie es früher war: Freundschaft, Familie, Liebe, Verständnis, ganz normale Sachen. Nicht nur materielle Sachen. Und sie wollen spielen, sie wollen sich freuen. Wir müssen einfach bei ihnen sein.

Momentan haben die ukrainischen Kinder in unserer Schule nur drei Stunden Unterricht am Tag. Zuerst war es schwierig mit dem Kontakt zu den anderen Kindern, die anderen Kinder hielten sich sehr zurück, obwohl in Deutschland ja jeder weiß, dass in der Ukraine Krieg ist und dass es Kinder gibt, die fliehen mussten. In Schulen werden Friedenstage gemacht mit Friedenssymbolen und der ukrainischen Fahne. Und es ist nicht neu, dass geflüchtete Kinder in die Schulen kommen. Hier hat man schon Erfahrungen gesammelt, die Lehrer*innen sind vorbereitet.

Nach ein paar Wochen kamen deutsche Kinder zu mir und fragten: Wie heißt „Ich will mit dir spielen.“ auf Ukrainisch? Ich sagte: Auf Ukrainisch heißt es „Я хочу грати з тобою.“, aber du kannst es auch auf Deutsch sagen, es wäre sogar gut, wenn du es auf Deutsch sagst. Zuerst habe ich zusammen mit den Kindern gespielt, als Dolmetscherin: Was wollen diese Kinder sagen? Was wollen jene Kinder fragen? Nach ein paar Tagen habe ich gesehen, dass es auch ohne mich läuft und die Kinder sich gut verstehen. Sie brauchen nur Zeit, dann geht das schon. Kinder lernen leichter Sprachen und integrieren sich schneller als Erwachsene.

Dürfen wir dich noch nach deinen Kolleginnen und Kollegen fragen? Du bist zurzeit zwei Tage in der Woche in der Schule und begleitest 22 geflüchtete ukrainische Kinder. Wieviel Kontakt hast du zu den anderen Lehrer*innen in der Schule?
Meine Schulleiterin ist sehr engagiert. Es gibt auch eine Lehrerin, deren Familie aus der Ukraine kommt. Sie spricht kein Russisch oder Ukrainisch, aber sie kommt oft zu mir und redet mit mir und hilft mir. Auch die anderen Kolleg*innen fragen mich, wie es mir geht und ob ich etwas brauche. Aber es gibt auch welche, die zurückhaltend sind. Ich sage „Hallo, guten Tag!“ und es kommt keine Antwort, das gibt es auch, ich weiß nicht, warum.

Viele Leute versuchen, wenn sie eine Person treffen, die Deutsch als Fremdsprache spricht, langsam zu reden und viel zu erklären: Das – ist – die – Tür, die – mache – ich – jetzt – auf. Das ist nett gemeint, denn sie wissen ja nicht, ob ich auch geflüchtet bin. Ich erzähle dann fast jedem, dass ich schon lange hier bin und dass ich hier Lehramt studiere und sie mit mir nicht so langsam reden müssen. 

Hast du den Eindruck, Viktoriia, dass sie dich als Kollegin sehen und akzeptieren? 
Ich weiß nicht, ob sie mich als Kollegin sehen. Eine Referendarin in unserer Schule hat mich gefragt, ob sie bei meinem Unterricht dabei sein kann. Ich war erstaunt, denn ich bin ja eine junge Lehrerin. Aber ich habe gesagt, ja, gern. Wir haben danach über meinen Unterricht geredet, sie hat mich viel gefragt. Sie hat mich als Lehrerin gesehen, von der sie etwas lernen kann. Deswegen kann ich vermuten, dass einige mich akzeptieren und vielleicht als Kollegin sehen. Bei anderen bin ich nicht sicher, ich müsste sie fragen, aber ich weiß nicht, ob sie ehrlich antworten würden.

Möchtest du noch einen Blick in deine berufliche Zukunft werfen?
Ja, für mich sieht das jetzt ganz klar aus. Obwohl man ja nicht wissen kann, was morgen passiert. Ich beende den theoretischen Teil des Anpassungslehrgangs und mache dann hoffentlich sofort ein Jahr lang den schulpraktischen Teil. Ich hoffe, dass ich danach wirklich gleichgestellt bin mit in Deutschland ausgebildeten Lehrer*innen und an einer staatlichen Schule arbeiten werde. 

Vielleicht möchte ich nicht Vollzeit arbeiten, denn ich habe schon gemerkt, dass die Arbeit in der Schule sehr anstrengend ist. Man muss viel vorbereiten und nachbereiten. Und es ist auch mental schwierig, weil es so viele Kinder sind. Irgendwann fühlst du dich dann schon kaputt, denn du hast deine ganze Energie ausgegeben. Ich finde, für Lehrer*innen ist es sehr wichtig, dass sie auch Freizeit haben, denn sie haben viel Verantwortung – für die Kinder, für die Zukunft.

Viktoriia, wir danken dir sehr für dieses Gespräch und wünschen dir viel Erfolg für den Anpassungslehrgang! Wir finden, das sächsische Schulsystem braucht Lehrer*innen wie dich.


Lisa Gulich und Irene Sperfeld 
IQ-Projekt „Brückenkurse und Qualifizierungsbegleitung für migrierte Akademiker*innen
in den Bereichen Soziale Arbeit, Pädagogik und Erziehung“ am ehs Zentrum

https://www.ehs-dresden.de/iq-projekt/
IQ-Projekt(at)ehs-dresden(dot)de

Das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ verfolgt die nachhaltige Verbesserung der Arbeitsmarktintegration von migrierten Erwachsenen. Das Programm wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und den Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert. Partner in der Umsetzung sind das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Bundesagentur für Arbeit (BA).

Quelle: 
[1] IBAS steht für Informations- und Beratungs­stellen Arbeitsmarkt Sachsen. Die IBAS unterstützt  bei der Anerkennung von ausländischen Qualifikationen und bei der beruflichen In­te­g­ra­tion. Weitere Informationen: https://www.netzwerk-iq-sachsen.de

 

Kontakt
Lisa Gulich
Referat Antidiskriminierung, Migration und Internationales