Schule - Interview mit dem Arbeitswissenschaftler Dr. Frank Mußmann zur SMK-Arbeitszeitstudie
Dauerthema Arbeitszeiterfassung
In dem Gespräch erklärt Mußmann seine Sicht auf die großangelegte Studie des Kultusministeriums und gibt eine Einschätzung dazu ab, ob die Studie in der Konsequenz zu weiteren Belastungen der Lehrkräfte in Sachsen führen wird. Der Göttinger Wissenschaftler ist ein Pionier der Arbeitszeitmessung von Lehrkräften und erklärter Verfechter der Arbeitszeiterfassung an Schulen.
Was waren aus Ihrer Sicht die beiden wichtigsten Ergebnisse aus der Arbeitszeitstudie, die Sie 2022 mit Unterstützung der GEW Sachsen durchgeführt haben?
Dr. Frank Mußmann, Arbeitswissenschaftler an der Universität Göttingen:
Als erstes sind sicherlich die im empirischen Mittel hohen Arbeitszeitwerte sächsischer Lehrkräfte zu nennen, egal ob auf Wochen- oder auf Jahresbasis. Auf Grundlage von Schätzungen sind es mehr als 3 Stunden pro Schulwoche und Vollzeitlehreräquivalent über der Normarbeitszeit. Wichtig ist die tiefergehende Erkenntnis, dass die zeitliche Mehrbelastung insbesondere aus den sog. „außerunterrichtlichen Tätigkeiten“ jenseits von Unterricht und Funktionen herrührt. Es zeigte sich, dass insbesondere in den letzten Jahren neu hinzu-gekommene, zusätzliche Aufgaben ursächlich zur Mehrarbeit beitragen. Allein diese Tätigkeiten machen fast elf Stunden pro Woche im Schulalltag aus und vielleicht noch wichtiger: sie werden überproportional von Lehrkräften getragen, die sowieso schon besonders hohe Arbeitszeiten haben.
Zum Zweiten wissen wir, dass Lehrkräfte bei der Regulation ihrer Arbeitszeiten recht eingeschränkt sind – einzige Möglichkeit ist häufig, ihre Stunden zu reduzieren unter Inkaufnahme von Einkommenseinbußen.
Durch standardisierte Textanalyse einer Vielzahl anonymer Texteinträge konnten wir anhand der Sächsischen Studie erkennen, dass sich Lehrkräfte im Alltag v.a. bei unterrichtsbezogenen Tätigkeiten Entlastung verschaffen. (Verwaltungsaufgaben bieten deutlich weniger Spielraum für individuelle Entlastungen.) In der Tendenz sinkt dadurch die Bildungsqualität, was Lehrkräfte wiederum besonders belastet, wenn sie dies für ihren eigenen Unterricht konstatieren müssen.
Gab es in der Studie Ergebnisse, die Sie angesichts Ihrer Erhebungen in anderen Bundesländern nicht erwartet hätten?
Nein, nicht wirklich. Im Großen und Ganzen finden wir die gleichen allgemeinen Trends und ähnliche Hotspots der Belastungen vor.
Aber vielleicht ist zu erwähnen, dass wir bei unserer Digitalisierungsstudie darauf aufmerksam geworden waren, dass Sachsen (zumindest Anfang 2021) bei der Digitalisierung im Schulsystem im bundesweiten Vergleich zurücklag. Zwar gab es auch in Sachsen einen Digitalisierungsschub, aber bei einer geringeren Dynamik von 2020 auf 2021 als in anderen Bundesländern. Ein Teil der höheren Arbeitszeitwerte in Sachsen 2021 dürfte tatsächlich durch einen höheren Digitalisierungsaufwand als in anderen Bundesländern zu erklären sein.
Gab es Ihrer Meinung nach methodische Gründe dafür, dass das SMK Ihre 2022er Studie nicht als Ausgangspunkt für die Evaluation von Belastungen der Lehrkräfte nehmen wollte oder konnte?
Nun, da gibt es eine Reihe wichtiger Gründe. Am allerwichtigsten sicherlich, dass wir bei unserer Sächsischen Studie 2022 Lehrkräfte ihre Arbeitszeit haben schätzen lassen und gleichzeitig ihre subjektiv erlebte Arbeitsbelastung mit etablierten Instrumenten per Fragebogen gemessen haben. Bei einer Schätzung liegen natürlich keine exakten Zeitdaten vor, außerdem können Schätzdaten auch gar nicht so differenziert sein, dass man danach ins „Feintuning“ gehen könnte. Es ist also deshalb geradezu notwendig, dass das SMK eine eigene Zeiterfassung nach etablierten wissenschaftlichen Standards durchführen lässt und darüber hinreichend differenzierte Messdaten in anonymisierter Form erhält!
Wissenschaftlich gesprochen ist es durchaus normal, dass man Methoden überprüft, indem man ein Studiendesign wiederholt zur Anwendung bringt und dadurch evaluiert. Das geschieht gerade in Sachsen – ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse.
Auch der Sächsische Rechnungshof hatte das SMK zu einer Arbeitszeitstudie aufgefordert, um angesichts des Lehrkräftemangels die Anrechnungsstunden für Funktionsstellen, der Altersermäßigung sowie der Deputats-stunden für die Grundschule zu überprüfen. Erwarten Sie Ergebnisse in der SMK Studie, die künftig zusätzliche Belastungen von Lehrkräften in Sachsen rechtfertigen könnten?
Zu den Erwägungen des Landesrechnungshofes kann ich nichts sagen. Grundsätzlich gilt natürlich: Wenn man tatsächlich ins „Feintuning“ gehen will und Ressourcen gerechter und zielgenauer einsetzen will, benötigt man belastbare und differenzierte Arbeitszeit- und übrigens auch Arbeitsbelastungsdaten! – Aber zu Ihrer Frage: Auf Grundlage bisheriger Studien (nicht nur unserer, sondern einer Vielzahl anderer Studien) würde ich im Gegenteil an verschiedenen Stellen eher einen Entlastungsbedarf vermuten, als Befunde die (in der Breite) zusätzliche Belastungen rechtfertigen würden. Wie gesagt, vom Feintuning abgesehen, denn bisher befinden sich die meisten Tätigkeitsschwerpunkte von Lehrkräften ja quasi versteckt in einer „Blackbox“.
Kritiker*innen der SMK-Studie sagen, dass es wissenschaftlich nicht seriös sei, eine so tiefgehende Befragung über ein ganzes Jahr vorzunehmen, da davon auszugehen sei, dass die Betroffenen auf Dauer das Interesse und die Kraft verlieren und anfangen, pauschalisierte Werte einzutragen. Können Sie diese Kritik nachvollziehen? Wenn ja, inwiefern könnten diese Effekte die Ergebnisse verfälschen?
Nein, die Kritik kann ich weder nachvollziehen, noch entspricht dies den Erfahrungen im Rahmen anderer Studien. Im Gegenteil, es wäre zu kritisieren, wenn nur bestimmte Phasen eines pädagogischen Jahres erfasst würden, was weder den wechselnden pädagogischen Saisons, noch den Fächern, den Schulformen oder den Stilen und Profilen von Lehrkräften gerecht würde.
Andererseits ist es bei einer differenzierten Erfassung natürlich schon anstrengend, die Konzentration aufrecht zu erhalten und durchgängig vollständig und minutengenau einzutragen. Auch in unseren Studien erleben wir immer wieder Abbrüche, z.B. weil andere Anforderungen des Schulalltags einfach wichtiger sind oder überhandnehmen. Auch private Anforderungen können dem natürlich entgegenstehen.
Aber bei denjenigen, die dabeibleiben, ist es eher so, dass sich Erfahrungen und Routinen einstellen, die mitnichten zur Verzerrung führen müssen. Ich würde eine wachsende Routine, eine wachsende Kompetenz bei der Zuordnung von Tätigkeiten und z.B. das pragmatische Zusammenfassen kleinerer Tätigkeiten nicht als „Pauschalisierung“ diskreditieren. Je mehr man sich mit seiner Arbeitsorganisation und seinen Arbeitsressourcen beschäftigt, desto größer wird auch die Sensibilität dafür – entgegen Ihrer Hypothese wachsen also Sicherheit und Validität mit der Zeit. Genau genommen konnten wir sogar in Sachsen mit relativ wenig Zeit und Ressourcen nur auf dieser Grundlage eine Studie überhaupt durchführen.
Methodisch gesprochen haben wir explorativ über mehrere Studien hinweg Verfahren entwickelt, Arbeitszeiten und Relationen individuell schätzen zu lassen. Dieses Verfahren haben wir dann 2022 in Sachsen angewendet. Bei der Methodenentwicklung hatten wir gelernt, dass man bei einer Schätzung weder zu pauschal (eine Tagessumme), noch zu differenziert erfassen darf. Deshalb lassen wir – wie 2022 in Sachsen – nur wenige Tätigkeits-Klassen schätzen. Die Ergebnisse sind zwar nicht „exakt“, aber sehr wohl verwendbar, insbesondere wenn man sie mit einem geprüften Datensatz mit differenziert erhobenen Daten abgleichen kann!
Lassen Sie mich noch auf ein wichtiges Merkmal empirischer Studien zu sprechen kommen: Es gehört zu den wissenschaftlichen Standards, am Ende einer anonymen Erhebung auch Qualitäts- und Plausibilitätsprüfungen mit statistischen Verfahren durchzuführen. Auf diese Weise werden „Ausreißer“ und unzulässige Eintragsmuster von der finalen Auswertung ausgeschlossen. Dies beugt standardmäßig Verzerrungen vor.
Welche ergänzenden Verfahren zur Messung der Arbeitszeit gibt es, um die Belastungen von Lehrkräften objektiv darzustellen und verantwortungsbewusst zu steuern?
Die quantitative oder rein zeitliche Beanspruchung ist das eine, die qualitative oder subjektiv erlebte Belastung das andere. Arbeitswissenschaftlich ist es keine Frage, dass auch zeitlich weniger beanspruchende Tätigkeiten gleichzeitig höchst belastend sein können. Aus diesen Gründen führen wir parallel jeweils Belastungsstudien durch, die das subjektive Belastungserleben erfassen. Dazu gibt es eine Vielzahl etablierter Instrumente z.B. um psychische Beanspruchungen zu ermitteln, bspw. um den Auswirkungen von Konflikten nachzugehen oder widersprüchlichen Anforderungen durch eine heterogene Schüler-schaft oder wenn man kontinuierlich einem Multitasking oder Zeitdruck ausgesetzt ist. Auch digitaler Stress ist neuerdings eine Belastungsfolge, die es zu beachten gilt, und vieles mehr.
Auf jeden Fall ist Arbeitszeit nur ein Faktor zur verantwortungsbewussten Steuerung von Belastungen.
Vielen Dank für Ihre Antworten und Ihre Einschätzungen.
Das Interview führte Juri Haas.