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Sozialindex für Schulen

Brauchen wir für Schulen einen Sozialindex, um Bildungschancen gerechter zu verteilen?

„Ungleiches ungleich behandeln!“ – Unter diesem Motto fand am 13. August 2019 eine Podiumsdiskussion zum Thema Bildungsgerechtigkeit und Sozialindex statt. Eingeladen zu diesem fachlichen Schuljahresauftakt hatten das Referat Antidiskriminierung, Migration und Internationales (REFAMI) und der Bezirksvorstand Dresden der GEW Sachsen gemeinsam mit der DGB-Region Dresden-Oberes Elbtal. Die Moderation wurde souverän von Torsten Menzel (Teach First) übernommen.

Ausgangspunkt für die gutbesuchte Veranstaltung war die Feststellung, dass die Bildungschancen auch im PISA-Siegerland Sachsen immer ungleicher verteilt sind. Während in wohlhabenden Dresdner Stadtteilen wie Blasewitz oder Loschwitz nur ein bis zwei Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss verlassen müssen, erreichen in den Plattenbauvierteln Gorbitz und Prohlis 15 bis 20 Prozent keinen Hauptschulabschluss (vgl. Bildungsbericht der Stadt Dresden 2019, im Erscheinen).

Die sächsische Bildungspolitik berücksichtigt diese ungleichen Chancen auf schulischen und damit auch beruflichen Erfolg bisher nicht. Wie mit einer Gießkanne bekommen alle Schulen die gleiche Ausstattung – zumindest theoretisch. Denn bei den sozial belasteten Standorten kommt in Zeiten des Lehrkräftemangels besonders wenig an, da diese Schulen bei Lehrkräften gemieden werden.

Personal und Ausstattungen in Sachsen mit der Gießkanne – zumindest theoretisch

Es sind die Schulen in von sozialen Problemlagen betroffenen Plattenbauvierteln, die die meisten Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderdarf integrieren und die als DaZ-Schulen vorrangig Verantwortung für die Teilhabe von geflüchteten Kindern und Jugendlichen übernehmen. Lehrkräfte an diesen Schulen sind nicht nur zusätzlichen Belastungen, sondern auch ständigen Rückschlägen ausgesetzt und haben seltener Erfolgserlebnisse. In Bundesländern wie NRW, Bremen, Berlin oder Hessen werden daher zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen über einen Sozialindex verteilt, der die besonderen pädagogischen Herausforderungen von Schulen berücksichtigen soll.

Brauchen wir für Schulen in Sachsen ebenfalls einen Sozialindex, um Bildungschancen gerechter zu verteilen?“ – Zur Diskussion dieser Frage waren Expert*innen aus der Praxis, von Verbänden und der Verwaltung eingeladen. Hartmut Vorjohann (CDU), Beigeordneter für Bildung und Jugend Dresdens, zeigte zunächst exemplarisch wie durch die Anwendung eines Sozialindexes die unterstützungsbedürftigen KITAs und Horte in der Stadt ermittelt werden und in welcher Weise in Dresden die zusätzliche Zuweisung von Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen erfolgt.

Unterschiede zwischen „normalen“ Schulen und Schulen im „Brennpunkt“

Elena Domingo als Lehrerin von der 145. OS und Anna-Maria Feig als Schulleiterin von 117. GS in Dresden machten in ihren Beiträgen deutlich, wie sich der Alltag an Schulen mit schwieriger sozialer Ausgangslage von „normalen“ Schulen unterscheidet: Dass hier zum Beispiel in jeder Woche für die Kolleg*innen Elternsprechstunden und Teambesprechungen am Nachmittag fest eingeplant sind. Auch bestünde im Kollegium ein besonderer Fortbildungsbedarf zu diagnostischen und psychologischen Fragestellungen, um auf die besonderen Förderbedarfe der Schüler*innen eingehen zu können. Die Landesvorsitzende der GEW, Uschi Kruse, hob hervor, dass es schließlich eine Frage der Fairness sei, dass die zu kurze Personaldecke an sächsischen Schulen nicht zuerst den Schulen weggezogen werde, die die größten Probleme zu bewältigen hätten.

Die Kehrseite der durch bildungspolitische Entscheidungen beeinflussten Entwicklung, dass der Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte das Gymnasium als erstrebenswerteste Schulform sehen, kritisierte der Vertreter der Industrie- und Handelskammer (IHK) Dresden, Torsten Köhler: Immer weniger Absolvent*innen würde sich für eine berufliche Ausbildung entscheiden. Zudem wäre die Ausbildungsfähigkeit der verbliebene Bewerber*innen für nichtakademische Berufe immer mangelhafter.

Gute Bildung auch außerhalb des Gymnasiums gefordert

In diesem Zusammenhang wurde von Uschi Kruse auf die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens an der Gemeinschaftsschule hingewiesen. Eltern und Kinder könnten sich mehr Zeit lassen, bei der Entscheidung zwischen einer akademischen und einer betrieblichen Ausbildung. Zudem könnten Gemeinschaftsschulen durch das Zusammenlernen von stärkeren und schwächeren Schüler*innen bessere Voraussetzungen für die individuelle Förderung bieten. Hartmut Vorjohann gab zu bedenken, dass Gemeinschaftsschulen das Problem der sozialräumlichen Segregation jedoch nicht lösen würden. Schlecht ausgestattete Gemeinschaftsschulen in Plattenbauvierteln hätten zukünftig die gleichen Probleme wie die dortigen Oberschulen jetzt und würden Eltern nicht davon abhalten, das Gymnasium zu bevorzugen. In Bezug auf die räumliche Segregation wurde dem Publikum von Sabine Friedel (SPD) kritisiert, dass die Stadt Dresden nicht ausreichend Sozialwohnungen in sozial bessergestellten Stadtvierteln schaffen würde.

Insgesamt wurde das Ansinnen eines landesweiten Sozialindex sowohl auf dem Podium als auch vom Publikum sehr begrüßt. Umso mehr wurde bedauert, dass vom Sächsischen Kultusministerium (SMK) die Einladung zur Diskussion nicht angenommen worden war. Denn von diesem wurden in der Vergangenheit immer wieder Gründe gegen eine bedarfsorientierte Ressourcensteuerung geltend gemacht: So sei nach Ansicht des SMK die Einführung eines Sozialindexes sehr aufwändig und würde zudem die ermittelten Schulen stigmatisieren.

Vertreter*innen des Sächsischen Kultusministeriums (SMK) wurden vermisst

Beide Argumente wurden vom Podium zurückgewiesen: „Das Stigma Brennpunktschule haben wir sowieso.“ stellte Anna-Maria Feig klar: „Wenn es für uns auch zu einem Vorteil würde, wären wir froh.“ Auch Schwierigkeiten bei der Datenerhebung für einen Sozialindex konnte Hartmut Vorjohann nicht bestätigen: „Wir haben in Dresden keine Daten neu erheben müssen, sondern haben ausschließlich vorhandenen Daten der Stadt, der Landesamtes für Schule und Bildung und des statistischen Landesamts genutzt.“

Hat es Sachsen als PISA-Sieger und Gewinner sämtlicher Bildungsvergleiche wirklich nötig, dass an sozial belasteten Schulen besonders viele Jugendliche keinen Abschluss erreichen und engagierte Lehrkräfte ausbrennen? Die Antwort der Anwesenden war am 13. August eindeutig. Eindeutig war auch der Wunsch, dass nach der Wahl am 1. September diese Frage stärker in die Öffentlichkeit getragen wird. Denn in der Regel haben weder einflussreiche Politiker*innen noch sprachmächtige Journalist*innen Ihre Kinder an Schulen in sozialen Brennpunkten und können als Elternvertreter*innen auf deren besondere Situation aufmerksam machen.

Info:

Sozialindex

„...soll Aufschluss darüber geben, unter welchen Standortbedingungen und mit welcher Schülerklientel die einzelnen Schulen arbeiten. Dazu bündelt er Daten der Schul- und Sozialraumstatistik für möglichst kleine Räume und misst so die soziale Belastung an einer Schule und im direkten Schulumfeld.“ (vgl. SVR Policy Brief 2016, S. 15)

Indikatoren ergeben sich vor allem aus:

  • amtlichen Sozialraumdaten (z. B. Arbeitslosenquote, Sozialhilfebezug,
  • Einfamilienhäuser, Zuwandereranteil)
  • Schulstatistik (Sprachförderbedarf, Inklusion, Migration, Familiensprache)
  • Gesundheitsstatistik (Schuluntersuchungen), Kriminalitätsstatistik
  • ggf. Eltern- und Schülerbefragungen zur sozio-kulturellen Situation

Diese Verbesserungen sind für Schulen an sozialen Brennpunkten besonders wichtig:

  • kleinere Klassengrößen bzw. möglichst durchgängiger Zweitlehrereinsatz
  • geplante und angerechnete Zeitfenster für Teamsitzungen und Elternarbeit
  • verbindliche Angebote zur individuellen Lern- und Sprachförderung der Schüler*innen
  • Fortbildungen im Bereich sprachsensibler Unterricht und Förderung bei
  • Teilleistungsstörungen
  • Unterstützung der Schulleitungen bei der Entwicklung eines kooperativen Schulklimas