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Corona

Auswirkungen der Schließungen auf Kinder und Jugendliche

Nach einer interessanten Fortbildung zum Thema „Psychische Folgen der Kita- und Schulschließungen – Was können Pädagogen tun?” im Kreisverband Delitzsch-Eilenburg-Torgau möchten wir wichtige Aussagen für die pädagogische Arbeit weitergeben. Dafür hat uns die Heilpädagogin Martina Meixner im Nachgang einige Fragen zur Veröffentlichung beantwortet. Dafür ganz herzlichen Dank!

Mit welchen psychischen Folgen der coronabedingten Schul-und Kitaschließungen bei Kindern und Jugendlichen werden Pädagog*innen in der nächsten Zeit/in den nächsten Jahren konfrontiert werden?
Fast alle Kinder- und Jugendpsychiatrien im gesamten Bundesgebiet melden bereits jetzt eine Verdoppelung der Fälle. Hauptsächlich sind dies Kinder und Jugendliche mit Depressionen, Angststörungen, Zwangsgedanken und -handlungen, Essstörungen und selbstverletzenden Verhalten. Da Kinder und Jugendliche recht schnell merken, dass Erwachsene auf Angst und Traurigkeit oft wenig hilfreich oder sogar hilflos reagieren, wird künftig auch mit verstärkt aggressiven Verhaltensweisen zu rechnen sein, denn darauf reagieren die Kontaktpersonen. Pädagog*innen werden künftig verstärkt mit Leistungsabfall, Motivationsproblemen und Antriebsstörungen zu kämpfen haben. Die Corona Situation bewirkt  bei Kindern und Jugendlichen einen Daueralarmzustand. Im Dauerstress leidet bei Kindern das Explorationsverhalten. Das heißt, sie wagen sich wenig an Neues, Unbekanntes und Anstrengungsforderndes. Intelligenzmessungen liegen dann bei diesen Kindern und Jugendlichen etwa 9-11 IQ-Punkte unter den Realwerten. Ich spreche tatsächlich von einem zeitweisen Intelligenzverlust.

Haben Pädagog*innen unter den derzeitigen Bedingungen und Belastungen an Schulen und Kitas überhaupt die Möglichkeiten, diesen Folgen positiv entgegenzuwirken?
Sie müssen es zumindest versuchen. Kinder und Jugendliche entwickeln sich am besten und lernen am effektivsten, wenn sie sicher und entspannt sind. Ich beschreibe das im übertragenen Sinne gern wie folgt: Entspannt können Kinder zum Beispiel in einer Hängematte liegen. Damit sie dort wirklich entspannt liegen können, ist es nötig, dass die Erwachsenen (Eltern, Lehrer*innen und pädagogische Unterstützungssysteme) die Hängematte fest und etwa auf Augenhöhe an Träger/Bäume festbinden. Das heißt: Alle erwachsenen wichtigen Bezugspersonen müssen für Kinder und Jugendliche wieder ihre Verantwortung für Bildung und Erziehung wahrnehmen. Das setzt gegenseitigen Respekt auf der Erwachsenen­ebene voraus. Wenn Kinder gerade in der aktuellen Situation hilflose Akteure erleben, die sich gegenseitig die Verantwortung zuweisen, entwickeln sie selbst einen seelischen Totstellreflex.

Ein Beispiel: Eine Klasse, mindestens 25 Schüler, Leistungsniveau fällt noch weiter auseinander, mindestens ein Kind hat den Anschluss völlig verloren, bei „Problemkindern“ ist die Tagesstruktur verloren gegangen, die Konzentration hat weiter nachgelassen, die sozial-emotionalen Probleme bei Kindern haben sich verschärft… Was können Pädagogen tun, um nicht selbst an dieser Situation zu verzweifeln?
Der beste Schutz für Pädagog*innen ist ein kooperierendes Lehrerkolleg und, wie eben schon beschrieben, ein respektvoller von gegenseitigem Unterstützungswillen geprägter Umgang aller an der Erziehung Beteiligter. Dabei muss man natürlich gut mit den eigenen Kräften haushalten und diese sogar limitieren. Es gilt: Jeden Tag nur eine Baustelle! Sie dürfen mir glauben, dass die volle Konzentration auf diese eine Aufgabe schon eine Meisterleistung ist. Wenn jeder seine Baustellen gut erledigt, kommen wir alle weiter. Ich rate Lehrer*innen auch, jeden Abend drei kleine positive Begebenheiten mit den Schülern aufzuschreiben und am nächsten Morgen als erstes durchzulesen. Im Katastrophenmodus bemerken wir die Dinge, die gelungen sind, oft nicht mehr. Na ja… und Außenstehende sehen diese schon gar nicht oder äußern sich sogar noch anerkennend (vor allem nicht über Lehrer*innen).
Wie von mir oft formuliert: Lehrer*innen bekommen Gehalt und kein Schmerzensgeld! Um besonders im Umgang mit hochauffälligen Schülern Hilfe zu bekommen, muss diese eingefordert werden, sie kommt nicht automatisch aus Einsicht. Es gibt immer mehr Schüler, die nicht klassenfähig sind! Selbst Lehrer*innen mit einer hohen pädagogischen Kompetenz scheitern hier mit pädagogischen Angeboten und Methoden. Es ist also keine Unfähigkeit, wenn man Schulleitung, Jugendamt, Sozialpädagogen oder z. B. auch die Unfallkasse mit ins Boot holt. Von Letztgenannter gab es in den letzten Jahren Schützenhilfe (z. B. das Komm-mit-Mensch-Programm). Ich kann nur hoffen, dass dies oder ähnliches eine Neuauflage erfährt, weil Lehrer*innen dadurch erleben, dass sie das Problem nicht allein stemmen müssen. Bei verhaltensgestörten Kindern hilft basispädagogische Führung nicht. Hier wird eine Reaktion auf anderen Ebenen nötig (Heilpädagogik und Therapie)… und das sogar erst einmal in der Einzelsituation. Dafür braucht es ein Umdenken um auch in der Schule für diese Kinder Passung herzustellen. Es versucht doch auch keiner, einen Großbrand mit dem Handfeuerlöscher zu bekämpfen.

Eine ganz häufige, hilfesuchende und psychisch belastende Rückmeldung aus den Kollegien: Kinder, die dringend Förderung gebraucht hätten (von der Öffnung an und auch schon davor) und weiter brauchen, können sie nicht oder nur unzureichend bekommen. Die Personaldecke ist zu dünn, nach dem Unterricht die Konzentration natürlich nicht mehr da. Was passiert mit diesen Kindern, die nichts für ihre Situation können?
Diese Kinder haben in Corona­Zeiten viele soziale Kontakte verloren. Genau hier kann man ansetzen, indem man viele gemeinsame Gruppen- und Klassenerlebnisse organisiert. Sozialkontakte müssen durch die Erwachsenen organisiert werden, um den Kindern und Jugendlichen eine Kompensation zu ermöglichen.

Wir erfahren zuerst aus den Medien wie und wann es an Schulen weitergeht. In den Medien wird nicht selten unsere ganze Berufsgruppe diffamiert. Dabei geht die Mehrzahl an/über ihre persönlichen Belastungsgrenzen und verzweifelt leider zunehmend bzw. verliert den Glauben an die nötige Hilfe, Unterstützung, gar an bessere Zeiten. Dies könnte negative gesundheitliche Folgen für die Einzelnen nach sich ziehen. Welchen Rat geben Sie uns?
Lehrer*innen sind künftig nicht allein für die Rettung der jungen Generation verantwortlich. Wer selbst nicht mehr brennt, kann Kinder und Jugendliche nicht begeistern oder zum Brennen bringen. Lehrer*innen brauchen also „Brennstoff“. Neben der Eigenmotivation ist das hauptsächlich die gesellschaftliche Anerkennung des Lehrerberufs. Lehrer*innen dürfen es nicht länger hinnehmen, wenn man sie als die Prügelknaben der Nation betrachtet. Ändern können dies übrigens auch die Lehrer*innen! Denken Sie einmal darüber nach, wie Sie oft über Ihren Lehreralltag sprechen: „Die schlechten Rahmenbedingungen, die schwierigen unmotivierten Schüler, Eltern mit Sonderwünschen …?“ Was kommt in der Bevölkerung an: „Die bekommen nichts auf die Reihe!“ Sie wollten einen Rat: Sprechen Sie ab heute in der Öffentlichkeit über die herausragenden Leistungen und auch kleineren cleveren Ideen, die Sie mit oder für Schüler hatten.

Welche Versäumnisse sehen Sie bei der Politik? Wir als Bildungsgewerkschaft kämpften und kämpfen für notwendige Veränderungen. Leider werden unsere dringenden Appelle meistens nicht als solche angesehen. Was sollte Ihrer Meinung nach ganz schnell auf den Weg gebracht werden?
Nun, wir haben in Deutschland einen Generationenvertrag für dessen Einhaltung die Regierung zuständig ist. Kindern und Jugendlichen wird seit mehr als einem Jahr vermittelt, Rücksicht auf die ältere Generation zu nehmen. Sie sollen sich verantwortungsvoll an Kontaktbeschränkungen halten, damit Oma und Opa nicht sterben. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Vertragsbedingungen auch für Kinder und Jugendliche erfüllt werden. Wir brauchen sofort einen Sozialpakt KITA und Schule. Das heißt ein Fördermittelpaket welches modular Hilfen zur Aufarbeitung von Leistungsdefiziten und seelischen Prob-lemen möglich macht. Anerkennenswert ist zumindest die Verbesserung der Medienausstattung für Schüler*innen. Jetzt muss aber mehr passieren.

Ihre Worte: „Erziehung geht nur über Beziehung“ sind uns einleuchtend. An unseren Einrichtungen kann nicht selten durch mehrfache Lehrerwechsel, wechselnde Personen in der Unterrichts­versorgung, Unterrichtsausfall, Klassenaufteilungen über längere Zeit (vor Corona), Überlastung von Lehrkräften, die wachsende Zahl der Problemschüler… gerade diese Beziehung nicht im erforderlichen Maß aufgebaut werden. Umso jünger die Kinder, umso schlimmer die Folgen?
Ich zitiere hier einmal sinngemäß Gerald Hüther (Januar 2021 für Deutschlandfunk): Wenn junge Menschen seit einem Jahr ihre tieften Bedürfnisse (Kontakt mit Gleichaltrigen, spielen, bewegen, sich umarmen und anlächeln und angelächelt werden … mit Maske schwierig) unterdrücken, kommt es zu Veränderungen im Gehirn. Kinder verlernen ihre Bedürfnisse. Zitat Hüther:
„... dann werden die Motivationszentren im Hirn mit hemmenden Verschaltungen geradezu eingekapselt… Diese Entwicklung ist nicht ohne weiteres reparabel. Er habe große Sorge, dass in der Pandemie eine Generation junger Menschen heranwachse, die die eigene Lebendigkeit als Kind nicht mehr erfährt und sich später auch nicht mehr daran erinnern könne.“ Es ist tatsächlich so, dass je jünger ein Kind ist umso größer ist dieser Effekt. Ich sehe noch ein weiteres Problem auf uns zukommen: Die Zahl der Kinder mit Myopie (Kurzsichtigkeit) hat bereits jetzt erheblich zugenommen und es werden noch mehr. Schaue ich längere Zeit  auf einen Bildschirm (je kleiner umso übler) regt dies das Längenwachstum des Augapfels bei Kindern an. Durch Homeschooling hat sich die tägliche Medienzeit verdoppelt. Kompensieren könnten täglich mindestens zwei Stunden Bewegung an der frischen Luft mit Fernsicht. Ich fürchte eine allgemeine Kurzsichtigkeit auf allen Ebenen.

Viele Probleme, die es schon vor Corona gab (z. B. bei der Inklusion – die zumindest so bezeichnet wird) bestehen weiter, viele neue sind dazugekommen. Gibt es noch etwas, das Sie uns noch mitteilen möchten?
Corona ist das Brennglas für gesellschaftliche Probleme. Wir könnten jetzt die Chance nutzen, ein Schulsystem aufzubauen, das nicht (auf dem) Kopf steht, sondern auf den Füßen. Natürlich brauchen Veränderungen Zeit. Ein Jahr haben wir schon vertan. Veränderungen beginnen in der Lehrerausbildung, gehen weiter über die Ausstattung von Schulen und gehen hin bis zur gesellschaftlichen Stellung von Lehrer*innen. Wenn Politiker nicht wertschätzend für Lehrer*innen entscheiden und über diese sprechen, tut es der Rest der Gesellschaft auch nicht. Und außerdem möchte dann auch niemand Lehrer werden. Wir brauchen aber jede Menge davon, damit Klassen auch verkleinert werden können. Es ist meiner Meinung nach auch nötig, dass man  pädagogischen Nichtfachkräften (Laien) gesellschaftlich vermittelt, dass moderne Unterrichtsformen ein Mindestmaß an Erziehung und kindlicher Kompetenz voraussetzen. Der Lehrer ist der „Erklär-Bär“ (und eben nicht nur liebevoller distanzierter Lernbeobachter wie man derzeit gern verkündet), muss aber künftig auf eine Vielfalt von Methoden zurückgreifen können bis hin zum eigenverantwortlichen Lernen der Schüler*innen. Für die aktuelle Situation wünsche ich mir ein Coaching-Netzwerk für Lehrer für ganz konkrete Alltagshilfe.
Ich bin gern bereit mitzuhelfen.

Interview mit:  Martina Meixner
Heilpädagogin, KV Delitzsch-Eilenburg-Torgau