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Wissenschaftlicher Gastbeitrag

Arbeitszeiten und Arbeitsbelastungen von Lehrkräften in Deutschland

Eine Mehrheit der Lehrkräfte in Deutschland arbeitet seit Jahrzehnten oberhalb arbeitszeitrechtlicher und tariflicher Normvorgaben. Sie leisten Mehrarbeit, sowohl bezogen auf Schulwochen, als auch auf Jahresarbeitszeiten. Teilzeitkräfte bringen überproportional hohe Mehrarbeitsanteile ein. Für die pädagogische Kernaufgabe des Unterrichtens steht immer weniger Zeit zur Verfügung, während außerunterrichtliche Tätigkeiten deutlich mehr Raum einnehmen. Relevante Teilgruppen hochbelasteter Lehrkräfte verstoßen gegen gesetzliche Arbeitsschutznormen, indem sie regelmäßig mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten. Das hat deutliche Auswirkungen auf das Belastungserleben und verschärft bekannte gesundheitliche Risiken des Berufsstandes.

Die Corona-Pandemie und der Digitalisierungsschub haben die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in den Fokus gerückt. Neue Herausforderungen mussten kurzfristig im Sinne der Aufrechterhaltung des Bildungsauftrages angegangen und ad hoc Lösungen gefunden werden.

Schaut man auf die individuellen Arbeitszeitbilanzen der Lehrkräfte und die Arbeitszeitordnungen der Länder, haben Corona und Digitalisierung die seit mehr als fünfzig Jahren substantiell kaum veränderten Arbeitsbedingungen nun wie in einem Brennglas scharf gezeichnet und angesichts großer gesellschaftlicher Veränderungen den damit einhergehenden Reformbedarf offengelegt.

Nachdem dies lange unmöglich schien, gibt es inzwischen etablierte Möglichkeiten zur empirischen Vermessung der Arbeitszeiten von Lehrkräften. Im Rahmen der aktuellen Studie „Digitalisierung im Schulsystem 2021“ konnten erstmals seit langem auch bundesweit repräsentative Orientierungswerte zur Arbeitszeit von Lehrkräften ausgewiesen werden.

Dazu wurden die SOLL- und IST-Zeiten von 2.202 Lehrkräften auf individueller Ebene bilanziert und aggregiert analysiert. Lehrkräfte an Gymnasien und Gesamtschulen (inkl. vergleichbarer Schulformen) arbeiten einschließlich der Arbeiten in Ferienzeiten durchschnittlich 49:56 Stunden pro Schulwoche. In diesen Wert geht die tatsächliche Arbeitszeit (IST) von Vollzeit- und Teilzeitkräften vergleichbar und normiert auf Vollzeitlehreräquivalente ein.

Die Verrechnung der Spezifika der einzelnen Bundesländer ergibt einen Vergleichswert für die SOLL-Arbeitszeit von 46:48 Stunden, was in der Bilanz deutschlandweit eine durchschnittliche geschätzte Mehrarbeit von + 3:08 Stunden ergibt. Der Gesamtwert liegt konsistent um ca. 30 bis 60 Minuten über früheren Vergleichsstudien, wobei der Überschuss wohl als Effekt der aktuellen Herausforderungen gewertet werden muss, ohne dass detailliert zwischen Corona- und Digitalisierungs-Folgen unterschieden werden könnte.

(vgl. Abbildung 1)

Die bundesweiten Arbeitszeitdaten bestätigen, dass seit langem bekannte Probleme der Arbeitszeitbelastung von Lehrkräften in den letzten Jahren keineswegs gelöst wurden. Der Forschungsstand lässt sich in sechs zentralen Befunden zusammenfassen.

1. Deutschlands Lehrkräfte gehören international zur Spitzengruppe bei den verordneten SOLL-Arbeitszeiten

Deutsche Lehrkräfte haben besonders lange SOLL-Vorgaben – sie stehen nicht nur bei den verordneten Unterrichtsverpflichtungen (SOLL), sondern auch bei den verordneten Jahresarbeitszeiten (SOLL) an der Spitze in Europa.

2. Deutschlands Lehrkräfte erreichen ausgesprochen lange IST-Arbeitszeiten

So wundert es nicht, dass deutsche Lehrkräfte auch bei den tatsächlichen Arbeitszeiten (IST) im Durchschnitt ausgesprochen lange Arbeitszeiten erreichen. Lehrkräfte sind aufgrund der hohen Arbeitszeitvorgaben im Deputatssystem gegenüber vergleichbaren Beschäftigten im Öffentlichen Dienst schlechter gestellt.

3. Für die pädagogische Kernaufgabe des Unterrichtens steht immer weniger Zeit zur Verfügung

Es wäre falsch, die zeitliche Belastung der Lehrkräfte allein an der Nettounterrichtszeit festzumachen, denn in den letzten sechzig Jahren zeigt sich eine schwerwiegende strukturelle Verschiebung von Unterricht und unterrichtsnaher Lehrarbeit hin zu den außerunterrichtlichen Tätigkeiten. In den Grundschulen reduzierte sich der Anteil reinen Unterrichts von ca. 50 Prozent auf heute ca. 40 Prozent, in den Gymnasien von ca. 40 Prozent auf heute ca. 30 Prozent. Gleichzeitig hat sich der außerunterrichtliche Zeitanteil in beiden Schulformen mehr als verdoppelt. Das professionelle Anforderungsprofil von Lehrkräften hat sich über die Jahrzehnte ebenso schleichend wie nachhaltig verändert, so dass pädagogische Kerntätigkeiten quantitativ immer weniger Raum einnehmen.

(vgl. Abbildung  2)

4. Die auf die Schulzeit verdichtete Arbeitszeit birgt aufgrund von Mehrarbeit, Spitzenbelastungen und fehlenden Erholzeiten erhebliche Gesundheitsgefährdungen

Der Berufsalltag von Lehrkräften ist gekennzeichnet durch fehlende Erholzeiten an Schultagen (Schulpausen häufig ohne Erholungsmöglichkeiten) bzw. während der Schulwochen (Arbeit an Wochenenden häufig die Regel) und wiederkehrende Phasen mit Spitzenbelastungen. Bei den qualitativen, psychosozialen Belastungsmerkmalen fallen insbesondere hohe emotionale und psychische Beanspruchungen, ein Qualitätsdilemma unter Zeitdruck sowie generell Entgrenzungserfahrungen (bzw. Fehlende Work-Life-Balance) auf.

5. Die Komplexität der Einflussfaktoren führt zu einer extremen Streuung der individuellen Arbeitszeiten

Die wesentlichen Einflussfaktoren auf die Dauer der Arbeitszeit sind bekannt und grob quantifizierbar. Einen bedeutenden Einfluss in individuell verschiedenen Kombinationen haben sowohl Schulformen, Fächer, Jahrgangsstufen, Klassenstärke, verschiedenste Funktionsaufgaben z. B. in Schulleitungen, als auch Alter, Teilzeittätigkeit, professionelle Einstellungen, Kompetenzen sowie Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM). Es existieren teils extreme Streuungen in der Arbeitszeit zwischen einzelnen Lehrkraftgruppen. Als Folge von Corona und Digitalisierung sind die Bandbreiten noch gewachsen.

6. Qualitative Beanspruchungen sind unabhängig von der reinen Zeitbelastung ein eigenständiges Gestaltungsfeld

Zwar steigen mit der Länge der Arbeitswoche (IST) auch die Beanspruchungen durch die Arbeit, doch die subjektive Bewertung der Arbeitsbedingungen hängt nicht mechanisch von der absoluten Länge der Arbeitszeit ab. Vielmehr entspricht es dem Stand der Diskussion, dass auch die qualitativen Belastungen in ihrer Vielfalt beachtet und arbeitspolitisch gestaltet werden müssen.

Bei einer Analyse der Daten der Frankfurter Arbeitszeit- und Arbeitsbelastungsstudie 2020 zeigten sich für alle Lehrkräfte besondere Belastungen aus der Zunahme außerunterrichtlicher Aufgaben. Eine große Mehrheit fühlte sich durch das Ausmaß der außerunterrichtlichen Verpflichtungen überfordert, 73 Prozent empfanden es als (eher) stark beanspruchend, dass dadurch ihre Vor- und Nachbereitung des Unterrichts zu knapp war, 63 Prozent dass die Qualität ihres Unterrichts darunter litt.

Zukünftige Herausforderungen

Nach dem Ende der Corona-Pandemie wird es ganz wesentlich um die Gestaltung des viel beschworenen „neuen Normals“ an deutschen Schulen gehen. Der Digitalisierungsschub war pandemiegeprägt. Vielfach wurden digitale Lösungen ad hoc und zur kurz fristigen Aufrechterhaltung der Unterrichtsverpflichtung realisiert, folgten aber nicht einer fachlich und partizipativ entwickelten digitalen Schulstrategie oder wohldurchdachten Medienbildungskonzepten. Nicht alles, was zur Realisierung von Homeschooling, Hybrid- und Wechselunterricht sinnvoll war, wird dauerhaft zur digitalen Schulpraxis gehören. Aber wichtige Erfahrungen mit digitalen Medien und Formen digitalen Lehrens und Lernens liegen vor, an die gilt es anzuschließen. Zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen im Schulsystem sind Lehrkräfte notwendig, die sich engagiert und mit ausreichenden Zeit- und Handlungsspielräumen versehen, den neuen Herausforderungen widmen können. Die Spielräume sind jedoch erkennbar eng oder nicht vorhanden.

Belastbare und konsistente Erkenntnisse zu den Stellgrößen der notwendigen Belastungsreduktion und eine Vielzahl von Maßnahmenempfehlungen liegen vor. Mit Blick auf die bislang nur bundesweit vorliegenden aktuellen Befunde im Rahmen der Studie „Digitalisierung im Schulsystem 2021“ ist es darüber hinaus sinnvoll, durch Sonderauswertungen den spezifischen Merkmalen und Besonderheiten einzelner Bundesländer nachzugehen.
 

Frank Mußmann, Thomas Hardwig 
Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften 
der Georg-August-Universität Gö
ttingen