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Schule

„Abschiebungen aus dem Klassenraum verängstigen die gesamte Schulgemeinschaft“

Interview mit Bildungsexpertin Dr. Marguerite Lukes (New York) zur Reaktion von Schulen auf die Deportationsdrohungen von Donald Trump

Dr. Marguerite Lukes ist Forschungsdirektion des Internationals Network for Public Schools (für weitere Informationen zu diesem Netzwerk siehe unten). Seit über 25 Jahren widmet sie sich der Verbesserung des Schulerfolges von migrierten und geflüchteten Jugendlichen und Erwachsenen, insbesondere durch neue Perspektiven auf Schulentwicklung und sprachliche Bildung. Sie ist im Laufe ihrer Karriere als Lehrerin, Programmdirektorin, Lehrplanentwicklerin und Evaluatorin in diesem Bereich tätig gewesen. Außerdem ist sie Dozentin in der Lehramtsausbildung an der New York University und lehrt an der Universität Bremen. Als GEW Sachsen stehen wir seit 2015 durch Initiative des US-Konsulates mit Marguerite Lukes in engem Kontakt und haben bereits verschiedene Fortbildungsveranstaltungen zu den Themen Bildungserfolg und sprachliche Bildung mit ihr organisiert. Marguerite Lukes hat ihr Studium in Sprachwissenschaft in Köln abgeschlossen und spricht neben Spanisch, Italienisch und Englisch auch Deutsch. Daher wurde das Interview auf Deutsch geführt. (https://steinhardt.nyu.edu/people/marguerite-lukes)

Eins der zentralen Wahlversprechen Donald Trumps war seine Ankündigung, Migrant*innen ohne gültige Aufenthaltspapiere deportieren zu lassen. Wie haben Schulen mit vielen neu zugewanderten Schüler*innen auf diese Drohungen reagiert?

Marguerite Lukes: Grundsätzlich sind Abschiebungen von Schüler*innen und Familien für Schulen in den USA nicht neu – das ist schon unter Biden, Obama und vorherigen Präsidenten passiert. Allerdings gelten hierfür strenge Richtlinien. Nach der Wiederwahl Donald Trumps haben die Schulbehörden sofort begonnen, diese Richtlinien bereitzustellen, um Schulleitungen und Lehrkräfte über ihre Rechte gegenüber den Bundesbeamten aufzuklären und es wurde darüber informiert, wie Schulgemeinden ihre Schüler:innen und Familien schützen könnten. Nach geltendem Recht dürfen die Beamt:innen der Migrationsbehörden nur dann Zutritt zu Schulen erhalten, wenn ein richterlicher Durchsuchungsbefehl vorliegt oder eine Genehmigung der lokalen Schulbehörde, weil beispielsweise Gefahr in Verzug ist oder eine besonders schwere Straftat vorliegt. Abschiebungen in der Umgebung von Schulen, auf Spielplätzen oder in Krankenhäusern sind nicht legal.

Viele Schulen in unserem Netzwerk verfügen über langjährige Partnerschaften mit gemeinnützigen Organisationen und stellen Kontakte zu kostenlosen oder kostengünstigen Einwanderungsanwälten zur Verfügung und bieten Informationsveranstaltungen für Lernende und Eltern über ihre Rechte an. Um Familien im Fall einer Verhaftung oder Deportation zu unterstützen, wurden Notfallpläne erstellt. Das kennen wir schon seit 2016. Es ist natürlich eine Gratwanderung einerseits Vorbereitungen zu treffen, und andererseits nicht für zusätzliche Verunsicherung zu sorgen. Den lokalen Behörden und den Schulen ist sehr wichtig, dass die Angst nicht dazu führt, dass die Jugendlichen der Schule fernbleiben. Schulen im Internationals Netzwerk sind so gestaltet, dass eine Gemeinde entsteht und Schüler:innen und Familien sich trauen, Fragen zu stellen und sich auf die Lehrkräfte und alle Schulangestellten zu verlassen.  Das ist für uns nicht neu – wir machen das seit 1985 bewusst so, egal was politisch in Washington passiert. 

Es muss zudem gesagt werden, dass Abschiebungen zu Verunsicherung in der ganzen Klasse führen und nicht nur bei den betroffenen Kindern und Familien. Alle Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass Schulen weiterhin von Kindern und Eltern als sichere Orte wahrgenommen werden.

Schulen sind also mehr als reine Unterrichtsorte, sondern wichtige Anlaufstellen für die neu zugewanderten Familien?  

Marguerite Lukes: Ja, unbedingt. Schulen dienen als Treffpunkt und erste Anlaufstelle für Familien um Informationen über Unterstützungsressourcen und aktuelle Entwicklungen in der Einwanderungspolitik zu erhalten. Einige “Community Schools” bieten grundlegende Gesundheitsdienste wie Krankenpfleger*innen oder Verbindungen zu medizinischer Versorgung an. Schulen bieten auch Frühstuck und Mittagsessen allen Kindern an sowie Information über Wohnungen, Unterkünfte und Sprachkurse für Eltern usw. 

Wie viele Schüler*innen und Eltern sind an Schulen des "International Networks" potentiell von Abschiebungen betroffen?

Marguerite Lukes: Die Schulen in den USA wissen grundsätzlich nicht, welchen Aufenthaltsstatus ihre Schüler*innen haben. Im Plyler v. Doe Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA aus dem Jahr 1982 wurden die grundlegenden Rechte für den Schulbesuch von neu zugewanderten Jugendlichen in den USA festgelegt. Dazu gehören nicht nur die Rechte auf kostenlosen öffentlichen Schulunterricht, auf zusätzlichen Englischunterricht und den Schutz vor Diskriminierung. Die Schulen dürfen den Einwanderungsstatus von Schülern oder deren Familien auch nicht erfragen oder dokumentieren. 
Die Zahl der neu zugewanderten Personen in den USA liegt circa bei 15% landesweit. Die Debatte ist aktuell aber so aufgeheizt, dass selbst Studierende in meinem Seminar denken, dass 80% der Schüler*innen illegal in den USA sind.

Welche Auswirkungen auf Deine Arbeit erwartest Du angesichts Donald Trumps Ankündigungen, das staatliche Bildungssystem abzubauen zugunsten von Elternrechten und privaten Initiativen?

Marguerite Lukes: Momentan gibt es so viele neue Dekrete und Anweisungen der neuen Regierung, dass noch nicht abzusehen ist, was wirklich rechtlich zulässig ist und auch umgesetzt wird. Ich möchte mich daher nicht an Spekulationen beteiligen. Angst und Verunsicherung sind bereits sehr groß. Wir werden weiter das Beste in unserem Job geben, damit Jugendliche eine Zukunft haben, unabhängig davon, wie sich die Bedingungen ändern. Wie gesagt, gab es Abschiebungen auch unter der Obama-Regierung und Veränderungen in der Migrationspolitik sind für unsere Familien und Schulen nicht neu.

Du hast eine Situation an den Schulen beschrieben, in der sämtliche Beteiligten - lokale Behörden, Schulleitungen, Lehrkräfte - alles tun, um die Kinder und Jugendlichen an den Schulen bestmöglich zu schützen. Wodurch kommt Deiner Meinung nach diese Einigkeit zustande? 

Marguerite Lukes:  So funktionieren wir in unserem Netzwerk-Schulen. Unsere Arbeit basiert auf den neusten Erkenntnissen in Forschung und Praxis, und zentral ist, Jugendliche als ganze Personen zu betrachten.  Unentbehrlich dafür ist Sicherheit und eine Willkommenskultur in der ganzen Schulgemeinde. Dazu kommt, dass alle Pädagog*innen, die in unserem Netzwerk tätig sind, sich wirklich für die Schüler*innen einsetzen. 
Ein Beispiel: Als ich in der vergangenen Woche beim Arzt war, wurde ich von einer Krankenpflegerin versorgt, die in Tibet zur Welt gekommen ist und erst als Jugendliche in die USA kam. Sie hat mich sehr gut behandelt und mit Begeisterung und Professionalität ihren Job gemacht. Als wir ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass sie an einer unserer Internationals Schulen Englisch gelernt und ihren Abschluss gemacht hat. Alle meine Kollegen waren so von dieser Begegnung begeistert. Diese Begegnung macht deutlich, warum wir uns so für die Schüler*innen einsetzen: Gute, ganzheitliche Bildung für neu zugewanderte Schüler*innen ermöglicht eine gute Zukunft für die Kinder und Jugendlichen und für unsere Gesellschaft.
Viele von uns sagen sich auch, dass die migrierten Kinder und Familien in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht in die USA so viel Schreckliches erlebt haben, dass es auch für uns möglich sein muss, in diesen schwierigen Zeiten zu bestehen, an unseren Überzeugungen festzuhalten und unserer Bestes zu leisten.

Vielen Dank für das Interview und Dein Schlusswort.
 

Das Interview führte Juri Haas.


Info: 

"Internationals Network for Public Schools"?
Das Internationals Network geht auf eine Vernetzung von New Yorker Schulen im Jahr 1985 zurück. Vor genau 20 Jahren wurde das Netzwerk dann als landesweit tätige Bildungsorganisation gegründet, die auf die Unterstützung von staatlichen Schulen spezialisiert ist, an denen hauptsächlich neu zugewanderte Kinder und Jugendliche für ihren Sekundarabschluss lernen. Im Zentrum steht die Schulentwicklung. Es werden auch für Schulen außerhalb des Netzwerkes Fortbildungen und andere Unterstützungen angeboten.  Der Bildungserfolg von neu zugewanderten Jugendlichen wird als unverzichtbare Basis für den späteren beruflichen und persönlichen Erfolg und damit auch für die gesellschaftliche Integration gesehen, weshalb eine exklusive Lernumgebung für die Schüler:innen, die erst Englisch lernen müssen, als gerechtfertigt angesehen wird. Aktuell gehören 31 Schulen zu dem Netzwerk. An diesen lernen fast 10.000 Schüler:innen aus 130 Ländern mit der Unterstützung von 1.200 Pädagog*innen. Der "Internationals Approach" berücksichtigt nicht nur Aspekte des Unterrichtes, sondern auch die Kultur, die Struktur und die Verwaltung der Schulen. Die gemeinsame Basis der Schulen bilden fünf Kernprinzipien, das sogenannte HELLO-Prinzip:

1. Heterogeneity + Collobaration: Es wird die Zusammenarbeit von Lernen mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen, Bildungshintergründen und Kulturen gefördert.
2. Experiential + Project Learning: Die Heranwachsenden werden ermutigt, ihre Umgebung zu erkunden und reale und aktuelle Probleme zu lösen, was ihr Engagement und Verständnis fördert.
3. Language + Content Integration: Sprach- und Fachunterricht sind nicht getrennt, d.h. Englisch wird von Beginn an nicht isoliert unterrichtet, sondern in allen Fächern integriert.
4. Localized Autonomy + Responsibility: Der Lernprozess ist so organisiert, dass der Erwerb von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Lernenden unterstützt wird.
5. One Learning Model For All: Auch das Personal an den Schulen arbeitet in diversen Teams an praktischen Aufgaben auf Augenhöhe zusammen, so dass die Kooperation der Erwachsenen und der Schüler*innen spiegelbildlich ist.

Die Organisation bietet mehr als 5000 Stunden Fortbildung jährlich für Lehrkräfte, Schulleitungen und Betreuungspersonal. Rund 50.000 Lernende wurden seit der Gründung unterstützt. Die Schulen des Internationals Networks können beeindruckende Erfolge vorweisen: So sind die Abschlussquoten der neu zugewanderten Schüler*innen mit 74% deutlich höher als im Durchschnitt in den USA (40%). Zudem werden rund 90% der Absolvent:innen an Colleges und Universitäten aufgenommen. Dass das HELLO-Prinzip in 20 Jahren von einer Handvoll Schulen auf über 30 erfolgreich übertragen werden konnte, spricht sicherlich für die gute Umsetzbarkeit des "Internationals Approach".

Hier finden sich prägnante Handreichungen des "Internationals Approach" zum Thema Schulentwicklung, Umgang mit Heterogenität und sprachlicher Bildung: https://www.internationalsnetwork.org/newcomer-resources/